ESC 2022 Der Favorit setzt sich durch: Europa zeigt sich solidarisch mit der Ukraine

Mattias Breitinger
Das Kalush Orchestra beim ESC 2022 in Turin
Sie gingen als großer Favorit ins Rennen: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine gewann den ESC 2022 in Turin
© Giorgio Perottino / Getty Images
Das TV-Publikum kürt das Kalush Orchestra aus der Ukraine zum ESC-Sieger in Turin. Aus Solidarität oder wegen der spannenden Folklore-Hip-Hop-Mischung? Für Deutschland bleibt wieder nur ein letzter Platz.

Hoch über Kiew thront die 62 Meter hohe Mutter-Heimat-Statue – zu sehen war das Symbol für die "Mutter Ukraine" beim letzten Eurovision Song Contest aus Kiew vor fünf Jahren. Vermutlich wird es 2023 wieder gezeigt werden, falls die nächste Ausgabe des europäischen Musikwettstreits tatsächlich aus der Ukraine kommen sollte.

Denn am Samstagabend siegte nach einer gut dreistündigen Show das Kalush Orchestra, die ukrainischen Vertreter beim 66. Eurovision Song Contest. Mit einem Lied, das der rappende Frontmann Oleh Psiuk über seine Mutter geschrieben hatte, lange bevor Russland beim südlichen Nachbarn einmarschierte.

Doch durch den Krieg hat "Stefania" für die Ukrainer tiefere Bedeutung erlangt. Die besungene "mamo" im Refrain steht nicht mehr nur für Psiuks Mutter, sondern – wie das Kiewer Monument – für das kriegsgepeinigte Heimatland und alle ukrainischen Mütter, die jetzt von ihren Söhnen getrennt sind. Weil sie vor Wladimir Putins Armee ins Ausland geflohen sind, während ihre Männer und Söhne im Land blieben, um es zu verteidigen.

Nur mit Ausnahmegenehmigung zum Song Contest  

Auch die Mitglieder des Kalush Orchestra waren noch vor Kurzem im Krieg im Einsatz. Nur dank einer offiziellen Sondergenehmigung durften sie zum ESC nach Turin reisen. Dort schlug ihnen eine Welle der Sympathie entgegen. Im Publikum und im Greenroom der 25 Finalisten, wo zahlreiche Flaggen in Blau-Gelb zu sehen waren. Aber auch auf der Bühne: Der deutsche Teilnehmer Malik Harris etwa wendete nach seinem Lied seine Gitarre – auf deren Rückseite hatte er die ukrainische Fahne und dazu "Peace" in Großbuchstaben geklebt. Ein politisches Statement, das beim ESC eigentlich nicht erlaubt ist. Aber aus aktuellen Gründen drückten die Veranstalter ein Auge zu, auch als Oleh Psiuk nach seiner Performance zur internationalen Hilfe für Mariupol und das Asow-Stahlwerk aufrief.

Das Kalush Orchestra galt schon als großer Siegfavorit, ehe überhaupt die Proben in Turin begannen. Bis zum Start der Finalshow stieg die Siegchance der Ukrainer bei den Buchmachern auf rund 60 Prozent, mit riesigem Vorsprung vor der Konkurrenz. Der Sieg schien ausgemacht, und das entzweite schon im Vorfeld die Fangemeinde: Würde das ein rein politisch motivierter Sieg werden? Stimmten die Zuschauerinnen und Zuschauer nur aus Solidarität gegenüber der Ukraine für den Beitrag oder ging es wirklich um das Lied? Könnte "Stefania" also auch in "normalen" Zeiten den ESC-Sieg davontragen?

Diese Fragen lassen sich nicht beantworten, schließlich werden die Anrufenden nicht nach ihren Beweggründen befragt. Allerdings: Schon vor Kriegsbeginn wurde "Stefania" bei den Buchmachern sehr hoch gehandelt. Kein Wunder, denn der Beitrag bot eine spannende Melange aus traditioneller ukrainischer Flötenfolklore und modernen Hiphop-Elementen. Dazu einen eingängigen Refrain und eine unterhaltsame Bühnenshow mit Zottelkostümen und Breakdance-Einlage. Das gute Ergebnis der ukrainischen Band Go_A mit einem ähnlichen musikalischen Konzept im vergangenen Jahr dürfte belegen, dass "Stefania" wohl auch ohne den Krieg sehr gut abgeschnitten hätte.

Der ESC – politisch wie selten zuvor

So war der ESC in diesem Jahr jedoch von den Ereignissen in der Ukraine überschattet. Und damit von einem "unpolitischen Wettbewerb", als den ihn die veranstaltende European Broadcasting Union gerne sieht, so weit entfernt wie wohl noch nie. Zum einen, weil Russland nach dem Angriff auf die Ukraine vom ESC ausgeschlossen worden war. Zum anderen trugen die Gastgeber schon mit dem Auftakt der Show zur Politisierung bei: Ein riesiges Orchester auf einer Turiner Piazza eröffnete die Show mit John Lennons "Give Peace a Chance".

Dennoch: Die Ukraine war nur eines von 25 Ländern, die den Sieg unter sich ausmachten. So war es in weiten Teilen doch ein normaler Song Contest, mit dem üblichen Potpourri aus gefälligem und gut gemachtem Pop, glitzernden Outfits, düsteren Balladen über Liebesschmerz, opulentem bis überkandideltem Drama und Spaßbeiträgen ohne allzu viel Tiefsinn.

Wo Wölfe auf blitzsaubere Hände treffen

Einen solchen unterhaltsamen Blödelsong lieferte die norwegische Truppe Subwoolfer mit gelben Wolfsmasken, Tänzern in gelben Ganzkörperkostümen und der an Rotkäppchen angelehnten (Über-)Lebensweisheit "Before the wolf eats the grandma, give that wolf a banana". Die Pop-Nummer machte gute Laune und wurde mit einem 10. Platz belohnt. Auch die etwas überdrehte Rock-Folklore-Polka aus Moldau über eine Zugfahrt von der Hauptstadt Chişinău in die rumänische Metropole Bukarest wurde vor allem dank des Publikums auf den 7. Platz gehievt.

Skurril kam Serbiens Beitrag daher: Sängerin Ana Đurić alias Konstrakta wusch drei Minuten lang zu ihrem Lied "In corpore sano" ihre Hände in einer weißen Schüssel. Experimentelles Musiktheater mit Tiefgang: Đurić kritisiert in dem Lied auf Serbisch den oberflächlichen Gesundheitswahn, der das seelische Wohlbefinden außer Acht lässt, und zugleich das serbische Gesundheitssystem. Den rhythmischen Mitklatsch-Part griffen die 7000 Besucher in der Halle gerne auf, und die Zuschauer vergaben großzügig Punkte (5. Platz).

Punkteregen für Spanien und Großbritannien

Fürs Auge war wie so oft beim ESC auch in Turin viel geboten. Die einen hofften durch imposante Bühnenbilder auf sich aufmerksam zu machen – etwa die für Griechenland antretende Amanda Georgiadi Tenfjord, die in einem weißen bodenlangen Kleid zwischen umgekippten Stühlen wie in einer Theaterszenerie umherging und dazu ihre Beziehungsdrama-Ode "Die Together" zum Besten gab (Platz 8).

Andere dagegen gingen schlicht nach der Devise "Sex sells" vor: Die 30-jährige Chanel ließ sich in einem viel Haut offenbarenden Torera-Outfit unentwegt von ihren barbrüstigen Tänzern über die Bühne heben, wackelte gekonnt mit dem Hintern – und sang dazu mehr als passabel ihre eingängige Uptempo-Song "SloMo", den angeblich zuvor Jennifer Lopez abgelehnt haben soll. Die Las-Vegas-reife Performance für Spanien wurde nicht nur in der Halle mit großem Jubel gefeiert, sondern auch vom TV-Publikum goutiert. So reichte es am Ende für Platz 3, Spaniens bestes Ergebnis seit 1995.

Noch erfolgreicher war ein anderes großes ESC-Teilnehmerland, das in den letzten Jahren mit Flops schwer gebeutelt war: Großbritannien. Die britische Delegation konnte den Zwölf-Punkte-Regen der nationalen Jurys für ihre markige Rockpopnummer "Space Man", bei der Sam Ryder seine Stimme in allerhöchste Töne geschraubt hatte, kaum fassen. Bei den Jurys lag der 32-Jährige mit der langen blonden Mähne auf Platz 1. Die Zuschauer waren etwas weniger begeistert, sodass am Ende ein zweiter Platz heraussprang. So gut hatten die Briten zuletzt 1998 abgeschnitten.

Sechs magere Punkte für Malik Harris

Während Ryder die zwischenzeitliche Führung durch die Jurys feierte, sah es für Deutschlands Hoffnung Malik Harris trübe aus. Er hatte seinen Song "Rockstars" sympathisch präsentiert, offenkundig mit viel Spaß bei der Sache. Doch sein auf der Bühne nachgebauter Probenraum, in dem der 24-Jährige mehrmals die Instrumente wechselte, zog gegen das visuelle Großaufgebot der Konkurrenz den Kürzeren.

So ließen die Jurys "Rockstars" komplett leer ausgehen, im Televoting kamen dürftige 6 Punkte zusammen (je 2 aus Estland, Österreich und der Schweiz). Das ergibt – bei reiner Televoting-Betrachtung – zwar immerhin einen 20. Platz. Doch im Gesamtklassement landete Deutschland mal wieder auf dem letzten Platz. Unverdient.

Anderen, die im Vorfeld hoch gehandelt worden waren, ging am Ende ein wenig die Puste aus. Dem Duo Mahmood und Blanco etwa war zwischenzeitlich zugetraut worden, mit der intensiven Liebesballade "Brividi" den Sieg für Italien zu wiederholen. Am Ende reichte es nur für Platz 6.

Selenskyj will ESC 2023 in der Ukraine austragen

Sie mussten sich wie alle anderen am Ende dem Kalush Orchestra geschlagen geben. "Stefania" war von den Jurys zwar nur auf den 4. Platz gesetzt worden, aber im Televoting kamen so viele Punkte zusammen, dass die Folklore-Hip-Hopper einen überragenden Sieg einfuhren. Von den maximal möglichen 468 Punkten im Televoting erhielt die Ukraine 439. Damit setzten die Zuschauer ein klares Zeichen der Solidarität.

Nach dem üblichen Prozedere, wonach das siegreiche Land den Wettbewerb im Folgejahr austrägt, wäre somit wieder die Ukraine an der Reihe. Ob man im Mai 2023 dort den ESC abhalten kann, ist aus heutiger Sicht indes fraglich. Aus Spanien und Schweden wurde schon Interesse bekundet, notfalls die Ausrichtung zu übernehmen.

Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bereits bekundet, den ESC 2023 in seinem Land austragen zu wollen. "Unser Mut beeindruckt die Welt, unsere Musik erobert Europa! Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine die Eurovision. Zum dritten Mal in unserer Geschichte", teilte Selenskyj via Telegram mit.

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