Elle Muliarchyk Teure Seide, lange Beine und eine Kamera

Von Daniela Gorgs
Sie geht in New Yorker Luxusboutiquen, streift sich den teuersten Fummel über und drückt in der Umkleidekabine auf den Selbstauslöser - so inszeniert das Model Elle Muliarchyk ihre ureigene Modeshow. Nur die Kamera ist ihr Zeuge.

Mit einer Umdrehung auf dem Absatz scannt sie die Röcke und Hosen an den Kleiderstangen im Erdgeschoss. Nichts dabei, was ihr spontan gefällt. Ihr Blick wandert die geschwungene Marmortreppe hoch zur Abendgarderobe. Elle Muliarchyk eilt die Stufen hinauf, magisch angezogen von einem Cocktailkleid im Schaufenster. Sie schiebt ihre Sonnenbrille ein Stück hoch.

Schwarzer Seidenstoff, auf Taille geschnitten, rückenfrei. Gelbe Ornamente schlängeln sich vom Bauchnabel bis zum Halskragen. Das ist genau ihr Stil. Und doch, sie beißt sich auf die Unterlippe. Die Umkleidekabine bei Roberto Cavalli ist lange nicht so aufregend wie das Designer-Kleid. Hellgraue Wände, dunkelgrauer Teppich. Diffuses Licht von oben. Wie soll sie hier eine anständige Aufnahme hinbekommen?

Vor ein paar Wochen hat man Elle Muliarchyk hochkant aus der New Yorker Luxusboutique in der Madison Avenue rausgeschmissen. Sie erinnert sich noch gut an die verdatterten Gesichter der Verkäufer, die in die Kabine hineinplatzten. Auf der Suche nach einem Accessoire war das Model im Cavalli Flagstore heimlich in den Lagerraum neben der Umkleide geschlichen und hatte das mehrmalige Klopfen der irritierten Verkäufer überhört. Ihnen war der Kinnladen hinuntergefallen, als sie die Kundin in einem Trägerkleid vor dem Spiegel posieren sahen. Eine Kleiderpuppe im Arm, eine Digitalkamera in der Hand. Elle Muliarchyk lacht, als sie die Geschichte erzählt. Es ist ein dunkles Lachen. Kraftvoll, geschmeidig. Sie zieht eine Zeitschrift aus ihrer Tasche und legt sie wie eine Trumpfkarte auf den Tisch: die neueste Ausgabe der englischen Modezeitschrift "Tank". Das Foto, das Elle Muliarchyk damals von sich schoss, ist dort abgedruckt. Der Chefredakteur Masoud Golsorkhi hat ihr drei Seiten gewidmet und sie als "überaus faszinierende Person" umschwärmt. Als eine, die mit einfachen Requisiten auf unbekümmerte Art kommerzielle Modefotografie parodiert.

Selbstherrliche Verwandlungsakrobatik

Elle Muliarchyk, 21-jähriges Modell aus Weißrussland, zieht zwischen Shootings für Modemagazine und Auftritten bei Fashion-Weeks ihre eigene Show ab. In Umkleidekabinen feinster Luxusboutiquen in New York, London und Paris arrangiert sie ihr privates Casting. Sie bestimmt Outfit, Make-up und Pose. Ist zugleich Fotograf, Art Director, Stylist und Model. Erfindet ihre Identität durch theatralische Verkleidungen immer wieder neu und macht ihr eigenes Ich zum Kunstwerk. Wie das die New Yorker Fotokünstlerin Cindy Sherman in den 80er Jahren vorgemacht hat, zeigt nun Elle Muliarchyk ein Spektrum selbstherrlich in die Wege geleiteter Verwandlungsakrobatik. Mal lehnt sie lasziv über dem Ledersessel, liegt nur mit Halbstrümpfen und einer Perücke bekleidet bäuchlings unter der Bank oder kauert in der Ecke, zeigt Bein bis zum Slipansatz. Und nur die Fotokamera ist Zeuge der persönlichen Mutationen.

Auf zur nächsten Boutique. Ein kleines Stativ und Pumps trägt sie im Lederrucksack, ein Plastik-Kaktus steckt in ihrer Tragetüte. Im luftigen Kleidchen, die blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden macht Elle Muliarchyk die Madison Avenue zum Laufsteg. Schwingt ihre Hüften bei jedem Schritt. Zeigt ihre langen Beine und fängt die Blicke der Vorbeigehenden ein. Auch der Mann im schwarzen Anzug bei Chanel arbeitet sich an Elles Beinen hoch, starrt dann neugierig auf den Kaktus in der Tüte. Wüsste er, dass diese junge Dame keine gewöhnliche Kundin ist, sondern sich gleich im nächstbesten 20.000-Dollar-Kleid über den Teppich in der Umkleide wälzen wird, um den besten Lichteinfall zu erhaschen, hätte er ihr wohl nicht die Eingangstür geöffnet.

Beste Perspektive für lange Beine und Waschbrettbauch

Als sie sich das erste Mal in einer Umkleide die teuren Fummel übergestülpt und sich selbst fotografiert hat, dachte sie nicht an Flucht in eine Traumwelt, an Selbstanalyse momentaner Stimmungen. Oder gar an Kunst. Sie übte Posen ein. Supernervös vor dem Shooting mit dem französischen Fotografen Patrick Demarchelier huschte sie bei Bloomingdales in eine Umkleide. Probierte aus, welcher Blickwinkel ihre Beine noch länger macht und ihren Waschbrettbauch noch flacher. Mit ihrer Lumix, einer digitalen Kleinbildkamera, hielt sie die Pose fest - zum Einstudieren daheim vor dem Badezimmerspiegel.

In ihrer Kindheit in Weißrussland hatte Elle Muliarchyk nur zwei Kleider zum Wechseln. Eines davon war die Schuluniform. Erst als die Diplomatenfamilie in die Tschechische Republik umzog, lebte die Tochter ihr Modeinteresse aus. Trug dick Make-up auf, schlüpfte in Miniröcke und Highheels - und manchmal auch in Mutters Kleider. Heimlich. Wenn sie heute in feinen Stoffen vor den Spiegel tritt, will sie ihr Innerstes nach außen kehren, nach körperlich zehrenden Casting-Terminen ihren Geist anstrengen, sich ausprobieren. Sie will Mode mit Kunst verschmelzen. Ein Blitzlicht lang, in einer Umkleidekabine. Einem Ort, der nicht öffentlich aber auch nicht privat ist. Und genau das macht den Reiz aus. Adrenalindurchflutet arrangiert Elle Muliarchyk ihr "Fotostudio". Stellt ein kleines Stativ auf, hängt Lampen ab, platziert mitgebrachte Requisiten wie Kakteen, Poster, Gorillatatzen und zieht sich um. Bis zum Druck auf den Selbstauslöser bleiben ihr maximal fünf Minuten.

Berauschendes Licht vor dreigeteiltem Spiegel

Elle Muliarchyk liebt die Umkleide bei Chanel. Geradezu berauschend findet sie das Licht, das von allen Seiten scheint und starke Schatten zeichnet. Oder die Umkleide um die Ecke bei Hermes. Oben im ersten Stock lag sie schon mal wie ein Fötus zusammengerollt vor einem dreigeteilten Spiegel, ein paar Tausend Dollar Seidenstoff locker um die Hüfte geschwungen. Ein raffinierter Scherenschnitt aus Armen, Beinen und Ellbogen. Ein Bild, für das sie den meisten Applaus erhielt bei ihrer ersten Ausstellung vor kurzem in der New Yorker Boutique "Via Bus Stop". Ihre Fotos drängen den Betrachter ungewollt in die Rolle des Voyeuristen. Als spähe er vor der Turnstunde durch das Schlüsselloch der Mädchenumkleide. Unbedingt wollen einige Besucher wissen, ob sie "erwischt" wurde, bei Hermes. Mit dem teuren Fummel auf dem Teppich. Ja, sie wurde. Aber für solche Fälle hat Elle Muliarchyk eine Ausrede parat. Mal hat sie gerade eine Kontaktlinse verloren, mal greift sie rasch zum Mobiltelefon und plappert wild drauf los. Dass bloß niemand das Stativ entdeckt.

Bei der Ausstellung am Broadway lobten die Fotografen Patrick Demarchelier und Mario Sorenti die Dreistigkeit der "Kollegin". Erstaunlich, was ihr in der Kürze der Zeit gelinge. Blitzlichter auf die Haute Couture, authentisch erlebt. Fast schade, dass ihr Traumkleid schon verkauft war, als Elle Muliarchyk noch einmal zu Cavalli zurückgekehrt ist. Jetzt hängt es in einem fremden Schrank, ohne Teil einer geheimen Mission gewesen zu sein.

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