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Was zum Teufel? Detox, Einhörner, veganer Plastikmüll: Warum wir nicht auf jeden Quatsch reinfallen sollten

Ein Finger der auf einen Brokkoli zeigt
Die Angst vor Gluten und Co. ist inzwischen so weit verbreitet, dass ein Lieferwagen mit Baguettes locker eine Massenpanik auslösen könnte (Symbolbild)
© nito100 / Getty Images
Alle jammern über die postfaktischen Zeiten, dabei sind wir oft selbst völlig irrational. Wir wollen uns beim Detoxen von innen heilen, haben Angst vor Gluten und glauben an uns heilende Steineier. Warum fallen wir im Alltag auf jeden Kokolores rein?
Von Nora Reinhardt

Kürzlich war ich im Drogeriemarkt mit einer Freundin, die ein neues Deo brauchte. Sie entschied sich für eines mit Granatapfel-Duft, schreckte dann aber doch vor dem Kauf zurück, weil das Deo Aluminium enthielt. Hä? Ich hatte von dem Gerücht gehört, dass Alu-Deos das Brustkrebsrisiko erhöhen aber wir waren doch aufgeklärte, junge Leute, die sich von profunden Erkenntnissen leiten ließen und nicht von modernen Mythen, oder? Alu im Deo, ist das nicht die zeitgemäße Version der Vogelspinne in der Yuccapalme?!

Wieso haben wir Angst vor Alu im Deo? 

Fakt ist, dass es bislang keinen einzigen Brustkrebsfall gibt, der auf die Verwendung von Deos zurückzuführen ist übrigens auch keinen, der auf das Essen von Folienkartoffeln zurückgeht. Ich stand vor einem riesigen Rätsel. Wie kann es sein, dass eine sonst rationale Frau vor 0,000105 Gramm Aluminium in einem Deo Angst hat? Ja, Brustkrebspatientinnen weisen oft einen höheren Aluminiumgehalt im Drüsensekret auf, aber es ist unklar, ob das nun Auslöser oder Folge der Krankheit ist. Und das zu wissen wäre ja entscheidend. Die nächste Frage wäre dann, wie viel des Aluminiums über das Deo in den Körper gelangt ist und wie viel auf anderem Weg.

Klar kann man prophylaktisch auf die Deos verzichten. Überhaupt darf man vor allem möglichen Angst haben. Vor Monstern unterm Bett. Kann ich beweisen, dass es keine Monster unter dem Bett gibt? Nein! Habe keinerlei Zahlen in der Hand. Und natürlich hat jeder Mitarbeiter eines Atomkraftwerks das Recht, sich davor zu fürchten, an einem Brotkrumen zu ersticken. Natürlich kann das passieren. Ich, aber das ist nur meine Meinung, würde deshalb nicht aufhören, Brot zu essen.

Detox – Wo gegen hilft das nochmal?

In meinem Freundeskreis beobachte ich in letzter Zeit dieses Phänomen: Darüber, dass man sich in politischen Fragen auf belastbare Zahlen stützen sollte, herrscht noch Einigkeit. Was belastbare Zahlen sind, tja, da wird es schon schwieriger und deswegen bleibt offenbar keine Zeit und Energie mehr, Behauptungen zu überprüfen, die einem im Alltag begegnen, vor allem zu Gesundheit und Ernährung.

Es ist paradox. Wenn jemand behauptete, Angela Merkel wolle Dänemark annektieren, würden die meisten mal sachte nachfragen, worauf diese Aussage basiert. Wenn hingegen jemand zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte behauptet, in unserem Körper befänden sich mysteriöse dunkle Stoffe ("Schlacken"), die nur mit teuren Säften herausgespült werden können, fragt niemand mal sachte nach. Etliche Kollegen "detoxen", grüne Smoothies rauf und runter. Das Entgiften ist aus wissenschaftlicher Sicht Blödsinn. Wirklich. Sogenannte Detox-Tees oder Detox-Smoothies sind lediglich Getränke. Gifte wie Alkohol werden von einem Organ (es lebe die Leber!) abgebaut, nicht von Tees mit klanghaften Namen wie "Teatox: Skinny Detox" oder Bodylotions.

Immerhin: Schädlich sind Detox-Produkte nicht

Das ist auch schon lange bekannt, hat sich aber leider nicht annähernd so schnell im kollektiven Gedächtnis festgesetzt wie Beyoncés Zwillingsschwangerschaft. Die britische Organisation "Sense about science" hat sich bereits vor ein paar Jahren den Spaß erlaubt und die Anbieter von 15 Detox-Produkten gefragt, gegen welche schädlichen Stoffe ihr Produkt denn nun wirke. Keiner der Hersteller konnte das konkrete Gift nennen und so natürlich auch keine Wirkung nachweisen. Immerhin: Das Trinken eines Detox-Tees ist nicht weiter gefährlich.

Ein Steinei in der "Yoni"?

Doch nicht aller Hokuspokus ist so harmlos. Anfang des Jahres warb die Schauspielerin Gwyneth Paltrow auf ihrem Reiche-Mädchen-Blog "Goop" für Steineier aus Rosenquarz und Jade, die man sich nachts in die "Yoni" - was auch immer das ist - einführen solle, um negative Energien loszuwerden und die Libido anzuregen. Die Gynäkologin Jen Gunter zerpflückte das Posting und sagte, der Steinei-Humbug sei der schlimmste Quatsch, seit Paltrow behauptet hat, BHs seien krebserregend. Die promovierte Ärztin erklärte geduldig, dass es kein "Yoni"-Organ im menschlichen Körper gebe, dass Gebärmutter und Vagina zwei unterschiedliche Dinge seien und man in keines von beiden ein Steinei stecken sollte. Das Ei könne eine Bakterielle Vaginose oder das Toxische Schocksyndrom auslösen. Da waren die Eier für umgerechnet gut 60 Euro (Jade) und 50 Euro (Rosenquarz) allerdings schon ausverkauft.

Das Einhorn ist das Tier unserer Zeit

Immerhin, positiv formuliert: Der eigene Körper fasziniert! Und was man alles hineintun kann. Oder bewusst nicht hineintut: Steineier, Bachblüten, Zuckerkügelchen, Weizenkleber ... Überhaupt, Gluten. Garantiert haben nicht alle, die auf Gluten verzichten, auch wirklich eine Unverträglichkeit. Aber die Angst vor Gluten ist inzwischen so weit verbreitet, dass ein Lieferwagen mit Baguettes locker eine Massenpanik auslösen könnte. Es gilt einfach als gesund und schick, darauf zu verzichten, dabei warnt der Ernährungswissenschaftler Sven-David Müller explizit, man solle nicht "einfach mal so auf Lebensmittel" verzichten, nur weil man meine, sich damit etwas Gutes zu tun. Tut man nämlich nicht. Und der Markt abstruser Produkte wird sekündlich größer. Ich warte eigentlich nur noch auf laktosefreie Limos. (Sehe gerade: gibt es schon!) Gut, ich warte wirklich nur noch auf laktosefreie Schuhcreme.

Karma-Beschwörer, Impf-Gegner, Bachblüten-Fans, Kale-Fresser, Smoothie-Säufer - es gibt sie zuhauf in meinem Freundeskreis. Jeder Hokuspokus wird zum Hype. Dazu passt perfekt, dass das Einhorn das Tier der Stunde ist. Gut, ich gebe zu, dass ich mindestens genauso verrückt bin und es in die andere Richtung auch übertreibe. Ich bin eine Vernunft-Besessene, eine Studien-Inhaliererin, ein Wissenschafts-Junkie und Forscher-Groupie. Ich richte meinen Alltag so weit wie möglich am aktuellen Stand der Forschung aus. Beispiele? Jede Gesichtscreme, die ich kaufe, durchläuft eine App, die prüft, ob in ihr schädliche Stoffe enthalten sind; seit ich gelesen habe, dass Vorfreude Menschen am zufriedensten macht, plane ich Konzerte und Urlaub länger vor; seit ich das Buch "Hygge" des Glücksforschers Meik Wiking gelesen habe, zünde ich täglich mindestens fünf Kerzen an, denn das steigert das Wohlbefinden. Undsoweiterundsofort.

Ich weiß natürlich, dass das übertrieben ist, aber mir gefällt der Gedanke, dass wir das Internet nicht nur dazu nutzen, Klamotten zu bestellen und Videos mit Kätzchen auf Staubsaugern zu gucken. Erstmals in der Geschichte kann jeder das Wissen der Menschheit abrufen und Forschungsergebnisse einsehen.

Veganer Plastikmüll

Man muss ja auch nicht gleich zu jeder klitzekleinen Sache großspurig das Recherchieren beginnen. Manchmal würde es schon helfen, ein bisschen weniger Rationalitäts-Askese zu betreiben und dem gesunden Menschenverstand eine Chance zu geben. Man sollte sich vermutlich viel öfter fragen: Kann das wirklich sein? Zum Beispiel wenn man im DIY-Laden steht und "vegane Wolle" entdeckt. Was ist vegane Wolle? Ja, genau, vegane Wolle ist meistens ein Euphemismus für die billigste, nichtwärmende Wolle, die zwar nicht von Schafen stammt, dafür aber aus Acryl ist, also Plastik. Insofern klingt es zwar erst mal ausgesprochen modern, nachhaltig und moralisch einwandfrei, wenn man etwas mit veganer Wolle strickt. In Wahrheit werden vegane Wollsocken allerdings zu Plastikmüll.

Man sollte auch viel öfter die Frage nach der Absenderkompetenz stellen, also: Woher weiß der das? Woher hat Gwyneth Paltrow noch mal genau ihr gynäkologisches Fachwissen? Und man kann fragen: Was könnte der Absender für Absichten verfolgen? Verdient Gwyneth Paltrow am Verkauf von Yoni-Steineiern im Onlineshop der "Goop"-Seite? Wie glaubwürdig ist so eine Homepage wie deo-ohnealu.de, auf die ich bei meiner Recherche gestoßen bin? Im Impressum steht Unilever, das Unternehmen, das unter anderem die Antitranspirante der Marken Axe, Rexona oder Dove herstellt und vertreibt. Informationen helfen ungemein bei der Einschätzung, ob vermeintliche Experten wirklich zuverlässig sind.

Mythen können Freundschaften zerstören

Noch erstaunlicher, als dass aufgeklärte Menschen ab und an Sehnsuchtsmaschinerien und fadenscheinigen Versprechen auf den Leim gehen, finde ich übrigens, dass in einer Freundschaft der dritte Weltkrieg losbrechen kann, nur weil man beispielsweise die Wirksamkeit von Globuli bezweifelt. Diejenigen, die durch Smoothies, Steineier und Globuli geheilt/erleuchtet/schlank wurden (nicht zwingend in dieser Reihenfolge), bleiben bei ihrer Meinung und verteidigen sie härter als Uli Hoeneß den FC Bayern. Wieso wird es immer gleich so emotional? Wieso kann man so schlecht dagegen argumentieren? Es gibt tatsächlich eine Erklärung dafür.

Die anderen werden es schon wissen

Die verblüffende Faktenresistenz haben nun US-Wissenschaftler untersucht und eine plausible Erklärung gefunden. Die beiden amerikanischen Professoren Steven Sloman und Philip Fernbach, Autoren des Buches "The Knowledge Illusion", fanden heraus, dass jede Art von Meinungsextremismus auf der Illusion fußt, dass man etwas versteht. Wir alle halten uns für schlauer, als wir eigentlich sind.

Der Mensch hat sich schon in der Urzeit auf die Expertise anderer Menschen verlassen müssen, und daher kennt der Mensch keine scharfen Grenzen zwischen dem Wissen einer Person und dem anderer Gruppenmitglieder. Jeder verlässt sich permanent darauf, dass die anderen schon Bescheid wissen.

Wir ignorieren die Fakten

"In der Regel gehen starke Emotionen und große Expertise nicht Hand in Hand", stellen die beiden Forscher Sloman und Fernbach fest. Laut meiner kleinen Privatstatistik kann ich das bestätigen. Mal angenommen, die Position eines Freundes zu einem Thema ist haltlos, ich vertraue ihm aber und übernehme seine Meinung, dann ist meine Meinung genauso haltlos. Wenn ich dann mit einem dritten Freund spreche und er beschließt, dass er derselben Meinung ist wie ich, basiert seine Meinung auch auf keinerlei Fakten, aber jetzt haben wir drei das gute Gefühl, eine richtige Meinung zu haben. Dieses Phänomen kennt jeder, der schon mal arglos mit Globuli-Jüngern diskutiert hat.

Warum aber gibt man eine Meinung, zu der man schnell gekommen ist, nicht genauso schnell wieder auf? Die US-Forscher Jack und Sara Gorman (Vater und Tochter) formulieren in ihrem Buch "Denying to the Grave: Why We Ignore the Facts that Will Save Us" eine Theorie: Menschen empfinden großes Vergnügen, wenn sie Informationen verarbeiten, die ihre eigenen Überzeugungen stützen. Das lässt sich sogar biologisch nachweisen, man erlebt dann geradezu einen Dopamin-Rausch. Es fühlt sich gut an, bei seiner Meinung zu bleiben, auch wenn man falschliegt.

Wir müssen andere auf Fakten und Auswirkungen festnageln

Und nun? Menschen mit Informationen zu versorgen hilft ja offenbar nicht. An die Emotionen zu appellieren verspricht eher Erfolg, unterwandert aber das Prinzip, dass man eigentlich die Wissenschaft stützen möchte. Sloman und Fernbach haben einen Ansatz. Sie baten Menschen um eine Meinung zu der Frage "Sollten Lehrer leistungsbezogen bezahlt werden?". Dann ließen sie die Teilnehmer detailgetreu die Auswirkungen erklären. Sie kamen ins Schleudern und relativierten ihre harten Aussagen.

Meine neue Strategie ist also: Die anderen auf Fakten und Auswirkungen festnageln. Ihre Hypothese ernst nehmen und darauf abzielen: Wenn es so wäre, was wären die Konsequenzen? Wenn zwischen Mexiko und den USA eine Mauer gebaut wird, wo lägen die Vorteile? Was würde passieren, wenn Kinder ungeimpft auf eine Party mit einem Masernpatienten gingen? Was wird aus dem Acrylpullover, wenn wir ihn entsorgen?

"Man erkennt den Irrtum daran, das alle Welt ihn teilt."

Wir schaffen das schon. Falls ihr mich sucht: Ich bin in einem Café, verströme den Duft von Granatapfel, trage eine vegane Jeans, stille meinen Durst mit laktosefreier Cola und meinen Wissensdurst mit einem Buch des französischen Schriftstellers Jean Giraudoux. Der schrieb schon vor 80 Jahren: "Man erkennt den Irrtum daran, dass alle Welt ihn teilt."

Dieser Artikel ist erstmals in der NEON-Ausgabe 06/2017 erschienen.

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