Als wir beide 2014 per Interrail in 14 Ländern unterwegs waren, ist uns eine Generation in der Sinnkrise begegnet. Von Arbeits- und Perspektivlosigkeit geplagt, oft ohne Selbstbewusstsein und – besonders erheblich: mit fehlendem Wissen der politischen Partizipation. Die junge Generation war nicht apathisch, aber doch etwas verloren. Als wir vor ein paar Monaten, im Frühjahr 2019 wieder unterwegs waren, von Finnland bis Italien, von Polen bis Portugal, spürten wir schnell eine Veränderung. Wo vorher Frustration herrschte, sahen wir nun Einsatzbereitschaft.
Wo einst Sorge um die eigene Zukunft dominierte, begegnete uns diesmal ein Selbstverständnis für Demokratie, Klima und Gerechtigkeit auf die Straße zu gehen. Kurzum: Europa hat sich politisiert. Vielleicht ist dieser Trend das Ergebnis von Trump, Brexit und Erdogan. Vielleicht ist es aber auch die tiefere Einsicht, dass Europa mit all seinen Freiheiten keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Ganz sicher aber ist es der Wunsch, Zukunft mitzugestalten und Intoleranz und Ungerechtigkeiten nicht länger hinzunehmen.
Europa ist längst cool
Und auch die Europawahl hat bewiesen: Die EU ist längst kein Ladenhüter mehr. Im Gegenteil. Zum ersten Mal seit den ersten Wahlen zum Parlament 1979 stieg die Wahlbeteiligung im Vergleich zur vorangegangenen Wahl wieder – und zwar gleich ganz ordentlich (von knapp 43 auf 51 Prozent EU-weit. In Deutschland sogar von 48 auf fast 62 Prozent). Es hat sich was getan im Politikinteresse auf unserem Kontinent und das ist auch gut so. Wie ein langsam heranbrechender neuer Tag, so zeigen sich auch in Europa erste konkrete Anzeichen eines neuen europäischen Selbstverständnisses. Ganz vorne mit dabei: junge Menschen.
Europa arbeitet sich raus aus seiner Zukunfts-Depression. Und auch wenn viele Medien am liebsten auf die schlechten Nachrichten des Tages schauen, so lohnt sich ein Blick darüber hinaus. Denn es gibt unzählige großartige Beispiele, die uns Hoffnung machen können. Hier sind drei europäische Mutbotschaften:
1. Frauen sind die Zukunft
Dass es uns allen besser geht, wenn es Frauen besser geht – das liegt eigentlich schon lange auf der Hand. Fehlende Gleichberechtigung bremst Europa aus. Umso besser, dass die Frauen Europas es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht haben, den Kontinent zu retten. Auf unserer Reise begegneten wir überdurchschnittlichen vielen engagierten (jungen) Frauen, die (oft im Ehrenamt) Einsatz für Demokratie, Austausch und Klimaschutz zeigten. Da ist die Aktivistin und Sängern Madeleina Kay aus Großbritannien, die ihr Studium an den Nagel gehängt hat, um in Vollzeit für einen Verbleib ihres Landes in der EU zu kämpfen. Kristina Lunz aus Deutschland, die sich als Vordenkerin für feministische Außenpolitik einsetzt. Florentine Hopmeier aus Österreich, die mit Mut und Ideen die europäische Kommission in Brüssel mit voranbringt. Ganz nebenbei sei bemerkt: Frauen wählten im Mai auch häufiger pro-europäisch als die Männer und machen 58 Prozent der Studierenden in der EU aus. Diese Aussichten machen Hoffnung.
2. Europa kann zur Mitmachdemokratie werden
Europa braucht ein Partizipationsupdate. Nach wie vor werden viele Institutionen als weit weg von den Menschen wahrgenommen. Das stimmt nicht immer, aber doch noch viel zu häufig. Wege, diese Kluft zu schließen, könnten neue Formate der Beteiligung sein. Zum Glück mangelt es im Europa der letzten Jahren nicht an Ideen, wie das konkret zu machen sein könnte. In Portugal zum Beispiel können seit ein paar Jahren Bürger*innen mitentscheiden, für welche Projekte ein Teil des Staatsbudgets eingesetzt werden soll. Die Abstimmung geht einfach per SMS oder auf dem Online-Portal. Dieser inklusive Bürgerhaushalt stößt auf breite Zustimmung. Auch in Irland denkt man partizipativ. Seit dem Jahr 2016 gibt es auf der Insel eine Citizens‘ Assembly – eine Gruppe die sich großteils auf zufällig ausgewählten Bürger*innen zusammensetzt – und das Parlament und die Regierung bei großen und wichtigen Themen berät und unterstützt. Die zeitgemäße Liberalisierung des Abtreibungsrechtes ist beispielsweise auf deren Initiative zurückzuführen. Das Format macht Schule. Warum versuchen wir so etwas nicht auch auf europäischer Ebene?
3. Bewegungen verändern den Kontinent
Wer politisch sein will, muss dazu eigentlich gar nicht in einem Parlament sitzen. Zu lange haben wir die politische Verantwortung nur auf gewählte Vertreter*innen abgeschoben. Aber dass auch Menschen wie du und ich politisch etwas ins Rollen bringen können, wird immer häufiger bewiesen. Die Initiative "Pulse of Europe" entstand Ende 2016 als Idee eines Ehepaares in Frankfurt und hat Monate später zehntausende Menschen für Europa auf die Marktplätze gebracht. 2017 hat Katja Sinko mit der Hilfe von ein paar Bekannten die Europakampagne "European Movement" ins Leben gerufen und jungen Menschen einen Ort für Europabegeisterung gegeben. Im Sommer 2016 haben sich eine Französin, ein Italiener und ein Deutscher zusammengetan, um eine pro-europäische Partei zu gründen – ein idealistisches Unterfangen. Keine drei Jahre später hat die Partei Volt einen ersten Abgeordneten ins EU-Parlament geschickt.
Im Herbst 2018 hat die 15-jährige Schwedin Greta Thunberg einen Klimastreik begonnen. Heute ist daraus eine der größten Jugend- und Klimabewegungen der letzten Jahrzehnte geworden. Individuen haben Einfluss und können Großes bewirken. Politik kann und darf außerhalb von Parlamenten gedacht werden. In Europa scheinen das mehr und mehr (junge) Leute zu verstehen. Gut so! Europa ist in Bewegung und auch wenn noch vieles schief läuft, so zeigt sich doch, dass ein neuer Aufbruch möglich ist, ja sogar schon begonnen hat. Wir müssen uns nur umschauen. Mitmachen ist übrigens auch erlaubt. Es gibt wenig Schöneres, als gemeinsam mit anderen für eine bessere Zukunft und gerechtere Gesellschaft einzutreten. Legt los!