Digitaler Minimalismus Dumbphone statt Smartphone: Premier Rutte setzt mit Retrotelefon Trend

Hollands Premier Mark Rutte schaut auf sein Smartphone
Digitaler Minimalismus: Der niederländische Premier nutzt sein Smartphone nur, um die News zu lesen. Er kommuniziert mit einem alten Nokia-Handy.
© Robin van Lonkhuijsen / Picture Alliance
Wer fühlt sich nicht oft genug von den Nachrichten auf dem Smartphone gestresst. Der niederländische Premier Rutte macht da nicht mit und kommt erstaunlich gut zurecht. Viele junge Niederländer:innen tun es ihm gleich – und sie sind nicht allein.

Ein Leben ohne Smartphone – unmöglich? Keineswegs. Selbst ein Regierungschef kann seinen anspruchsvollen Job gut meistern, ohne sich ständig auf die Alleskönner in Sachen Kommunikation zu verlassen. Dem niederländischen Premierminister Mark Rutte jedenfalls hat es bisher nicht geschadet; er ist schon mehrfach wiedergewählt worden. Mehr noch: Dass der Chef der liberal-konservativen VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) in erster Linie ein Nokia 301 benutzt, kommt bei seinen Landsleuten gut an. Damit kann man telefonieren und SMS-Nachrichten verschicken, getextet wird mit altmodischen Zifferntasten – das Gegenteil eines Smartphones. Das sogenannte Dumbphone ist sogar positiv für sein Image, heißt es. Es präge den Eindruck eines ganz normalen, nicht abgehobenen Mannes mit.

Der Premier setzt mit seinem digitalen Minimalismus sogar einen Trend bei jungen Niederländer:innen. Vor Studierenden seiner alten Universität in Leiden machte der 55-Jährige unlängst Eindruck damit, dass er ein Smartphone nur dazu nutze, die Nachrichten zu verfolgen. Ansonsten kommuniziere er mit seinem Nokia, berichtete Rutte. "Ein großer Vorteil: Ich kann keiner App-Gruppe beitreten. In meinem Umfeld sehe ich Menschen, die gestresst sind, weil sie mit all' diesen Gruppen mithalten müssen, während ich ziemlich entspannt durchs Leben gehe", zitiert die Leidener Studentenzeitschrift "Mare" den Premier. Und für einen Regierungschef durchaus wichtig: Das alte Nokia könne nicht abgehört werden. "Wenn ich aus dem Ausland komme, muss mein Smartphone platt gemacht werden, aber mein Nokia kann ich behalten."

Smartphone nicht das Leben bestimmen lassen

Für viele, auch junge Niederländerinnen und Niederländer geht es weniger um Geheimhaltung als um Entschleunigung. "Ich möchte, dass mein Handy tut, was ich will, und nicht, dass mein Handy mir durch Algorithmen und Benachrichtigungen sagt, was ich tun soll", berichtet Beek Groot der Tageszeitung "De Volkskrant". Der Regiestudent an der Niederländischen Filmakademie ist 26 Jahre alt und nutzt das Klapphandy Nokia 2720 – mit großen Tasten und automatischem Alarmknopf eindeutig eher für eine ältere Zielgruppe bestimmt. Außer einer besseren Kamera vermisst er jedoch nichts, sagt der junge Filmstudent, schon gar nicht Social-Media-Apps. "Facebook und Instagram sind nutzlos", sagt Groot, "die wollen nur Geld mit dir verdienen." Um mit seinen Freund:innen in Kontakt zu bleiben, braucht er sie nach eigener Aussage jedenfalls nicht.

Während der Premierminister zugibt, dass er sein Dumbphone vor allem deshalb nutzt, weil er damit schneller arbeiten kann als mit einem vollwertigen Smartphone, zeigen Diskussionsforen auf Plattformen wie Reddit, dass digitaler Minimalismus nicht nur in den Niederlanden zunehmend ein Trend für junge Leute ist. Laut aktuellen Zahlen sind die weltweiten Verkäufe einfacher Handys von 400 Millionen Stück im Jahr 2019 auf rund eine Milliarde in 2021 gestiegen (zum Vergleich: 2021 wurden 1,4 Milliarden Smartphones weltweit verkauft; ein Rückgang um 12,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr). Der Mit-Gründer des Dumbphone-Herstellers Light Phone, Kaiwei Tang, berichtete der BBC, dass die meisten Kunden zwischen 25 und 35 Jahre alt seien.

Dumbphone: Mittel gegen "geistiges Jucken"

In dem Trend zeigt sich, dass sich viele Smartphone-Nutzer:innen von ihrem Handy geradezu getrieben fühlen. Kein Wunder bei einer durchschnittlichen Nutzung von drei bis vier Stunden täglich und zahlreichen Apps, die sich die Art und Weise, wie die menschliche Aufmerksamkeit funktioniert, zunutze machen. Stefan van der Stigchel vom AttentionLab der Universitäten Utrecht und Leiden beschreibt gegenüber der "Volkskrant" die Aufmerksamkeit als unseren Filter der Welt, um sich auf potenziell gefährliche oder wichtige Situationen in der nahen Umgebung zu konzentrieren. Ein kleines Zeichen, schon werden wir abgelenkt. Deshalb können wir den Tönen oder Vibrationen der Smartphones kaum widerstehen, erklärt der Professor für kognitive Psychologie.

Hinzu kommt, so van der Stigchel, dass sich jede Nachricht lohnen könnte, die ersehnte liebevolle SMS oder die ungeduldig erwartete Antwort auf eine wichtige E-Mail sein könnte. Nachrichten, die man auf keinen Fall verpassen wolle. Selbst wenn wir uns gegen die Impulse wehren, bleibe eine Art "geistiges Jucken" zurück. Das möchten viele Smartphone-User:innen offenbar nicht mehr spüren. Mit Hilfe eines Dumbphones wollen sie kommunikativ bleiben, ohne sich getrieben zu fühlen. Oder sie nutzen Dumbphones eine Zeit lang, um herauszufinden, welche Funktionen sie wirklich vermissen. Danach könne man das Smartphone gezielt an die eigenen Bedürfnisse anpassen und wieder nutzen.

Das empfiehlt auch Psychologe van der Stigchel, der Smartphones grundsätzlich als "eine fantastische Sache" bezeichnet. Ebenso wie Premierminister Rutte. "Es ist schön, aber es kostet so viel Zeit", sagte der Politiker während seines Treffens mit niederländischen Student:innen. "Lest lieber ein Buch oder eine Zeitung."

rw

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