Sie ist die Regentin über 80 Millionen Deutsche und heimliche Königin von Europa. Er ist der Herr über den größten deutschen Konzern, ein Reich mit fast 600.000 Mitarbeitern und Werken in der ganzen Welt. Die deutsche Kanzlerin und der Chef von Volkswagen – sie sind ein ganz besonderes Paar.
Treffen mit Winterkorn hinter verschlossenen Türen
Er, das war über acht Jahre lang Martin Winterkorn. Bisher war nur wenig bekannt, wie das Verhältnis zwischen Kanzlerin und Konzernlenker funktionierte. Dass sich beide gut verstanden, hörte man. Viel mehr wusste man nicht. Jetzt konnte der stern interne Unterlagen aus dem Kanzleramt aus den letzten fünf Jahren auswerten, über die Beziehungen zwischen Autolobby und Regierungszentrale. Es ist in wichtigen Teilen eine Akte über Martin Winterkorn, den VW-Chef, der jüngst über den Dieselskandal stürzte. Die Papiere zeigen, wie sich Kanzlerin und Konzernchef halfen – und wie sie einander brauchten.
Es war ein kleines Ritual, das sich offenbar über die Jahre zwischen ihm und ihr herausbildete. Regelmäßig im Januar oder März ließ er bei Merkel um ein persönliches Gespräch bitten. Sie ließ sich nie lange bitten. Zeitfenster: 45 Minuten. Protokolle dieser Runden gibt es nicht. Gelegentlich wurden sogar die Mitarbeiter vor die Tür verbannt. Nur Merkel und Winterkorn wissen wirklich, was in ihrem Büro verhandelt wurde. Aber sicher ist: Merkel fand die Termine mit dem VW-Chef wichtig.
Einmal, im März 2012, halten die Fachbeamten das persönliche Treffen mit ihm für gar "nicht zwingend erforderlich", wie sie in einem Vermerk festhalten. Die Kanzlerin werde doch bereits im April mit dem chinesischen Premier Wen Jiabao die Konzernzentrale in Wolfsburg besuchen. Doch Merkel besteht auf einem weiteren Termin mit Winterkorn – "Lage der europäischen Autoindustrie ist sehr ernst", findet sich als handschriftliche Notiz auf dem Vermerk, offenbar von der Kanzlerin selbst. Gemeint ist: die Lage bei der VW-Konkurrenz von Peugeot bis Fiat ist gerade ernst und deshalb wollen die deutschen Autobauer im Schulterschluss mit der Regierung im Frühjahr 2012 verhindern, dass die Mitbewerber staatliche Hilfen bekommen.
Verflechtungen zwischen Regierung und Industrie
Dafür, dass die Informationen zwischen Regierung und Industrie flutschen, sorgen ein paar Stufen drunter die Mitarbeiter bei VW und beim Verband der Automobilindustrie (VDA) – Leute, die passenderweise selbst oft aus der Politik kommen. Leute wie der VDA-Präsident Matthias Wissmann, der mal als Verkehrsminister mit Merkel zusammen im Kabinett Kohl saß. Er grüßt in Briefen immer auch per Du – "liebe Angela" für die Kanzlerin, "lieber Ronald" und "lieber Peter" für die Kanzleramtschefs Pofalla und Altmaier sowie "lieber Ecki" für den ehemaligen Staatsminister Eckart von Klaeden. Der ist heute selbst Cheflobbyist, bei Daimler.
Der oberste VW-Lobbyist Thomas Steg ist zwar Sozialdemokrat, aber ebenfalls per Du mit Merkels engsten Mitarbeitern. Er war ja mal ihr Vize-Regierungssprecher. Steg wendet sich gerne an Merkels Büroleiterin Beate Baumann, wenn er einen Termin für Winterkorn organisieren möchte. Und er hinterlässt schon mal einen handgeschriebenen Brief an die "liebe Beate" im Kanzleramt. Darin fragt er an, ob die "Chefin" - also Merkel - Interesse hätte, zusammen mit Wladimir Putin ein VW-Werk in Russland zu besuchen. "Ansonsten freue ich mich auf ein Wiedersehen – wird Zeit", schließt Steg den Brief an die Büroleiterin im November 2012.
Die Papiere zeigen, was so ein VW-Chef alles von der Kanzlerin will: Sie soll mit ihm zusammen den Grundstein für ein Werk im chinesischen Tianjin legen und ein anderes im amerikanischen Chattanooga eröffnen. Sie soll sich bei den Chinesen über unfaire Praktiken beschweren und mit den Amerikanern das Freihandelsabkommen TTIP voranbringen. Einmal im Jahr muss sie die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt eröffnen und bei der Gelegenheit mit den Autobossen zu Mittag essen.
Von Messe-Eröffnung bis TTIP-Einsatz
Das mit der IAA macht sie immer wieder gerne. Das mit den Werksbesuchen klappt nur selten. Termine sind knapp und überdies müsse man auf "Gleichbehandlung" der verschiedenen Firmen achten, notieren sie im Kanzleramt. Gelegentlich soll dann der Wirtschaftsminister einspringen, mit dem sich die Bosse der großen drei Hersteller eigentlich nicht so gerne abgeben. Einmal will Steg die Kanzlerin dafür gewinnen, zusammen mit dem britischen Premier David Cameron die Rettung eines Bentley-Werks in England zu verkünden – die Marke gehört zum Konzernreich. Im Kanzleramt finden sie das übertrieben.
Allzu viel Lobbyistengeschleime mögen sie nicht in der Regierungszentrale. Und immer wieder schreiben Merkels Mitarbeiter ihr besorgte bis kritische Nachfragen an Winterkorn und Co auf. Zum Beispiel als der damalige Porsche-Chef im Juni 2010 zum Antrittsbesuch kommt: "Tesla hat einen Sportwagen als Elektroauto entwickelt", notieren die Beamte als Sprechpunkt für die Kanzlerin. Sie könne fragen: "Entsteht Porsche hier Konkurrenz?"
Im März 2015 kündigt Steg für den nächsten turnusmäßigen Besuch von Winterkorn das Thema "Automatisiertes Fahren" an; hier stehe man bekanntlich in "Konkurrenz zu Apple und Google". Im Kanzleramt kennt man das Risiko, dass die deutsche Autoindustrie beim selbstfahrenden und vernetzten Auto von den amerikanischen Digitalriesen bedroht wird. Aber da stelle sich doch die Frage, so ein Papier für Merkel, "ob die Automobilindustrie ausreichend Engagement bei der Förderung der heimischen IT-Industrie zeigt", zum Beispiel "durch Kooperation mit Start-Ups".
Deutsche Autobauer pflegen enge Kontakte zu Merkel
Als Hans-Christian Maaß, damals der Berliner Büroleiter von VW, irgendwann auch noch 20 Vorstandsassistenten einen Termin bei der Kanzlerin verschaffen will, lassen sie ihn abblitzen. Ein andermal will der Lobbyist sogar einen Merkel-Termin für den Betriebsratschef Bernd Osterloh organisieren. "Die möglichen Termine mit unserem Betriebsrat betreue ich immer mit besonderer Aufmerksamkeit", schreibt er an Büroleiterin Baumann. Die findet diesen Umweg ein bisschen "merkwürdig". In der Tat schreibt Osterloh die Kanzlerin immer wieder auch direkt an - vor allem wenn er das VW-Gesetz in Gefahr sieht - und rühmt sich eines guten Verhältnisses zu ihr.
Natürlich sind die VW-Leute nicht die einzigen, die sich an das Kanzleramt wenden. Gelegentlich – aber seltener – kommen auch Daimler-Boss Dieter Zetsche und Norbert Reithofer von BMW bei Merkel vorbei. Letzterer hat zeitweise nicht nur besondere Bedenken gegen strengere Klimaziele aus Brüssel – wo Merkel ihm 2013 beispringt. Im Juli 2014 wird er auch bei der Kanzlerin vorstellig, weil die Große Koalition Werkverträge stärker regulieren will. Das ist gefährlich für den Münchner Autobauer, der zahlreiche solche Verträge unterhält. "Es erscheint angemessen, wenn BMW seine Sicht vor dem Beginn des Gesetzgebungsverfahrens (BMAS plant dies für das nächste Jahr) vortragen kann", schreiben Merkels Beamte ihr dazu auf. BMAS steht für das Arbeitsministerium von SPD-Frau Andrea Nahles.
Einmal wendet sich auch der Betriebsratschef von Daimler mit einem skurril anmutenden Anliegen an die Kanzlerin. Man sei ja ganz entschieden für die Frauenquote in den Aufsichtsräten – aber sehe "erhebliche Probleme" bei "der konkreten Ausgestaltung". Bei Daimler seien nämlich nur 15 Prozent der Belegschaft Frauen – da schaffe es Probleme, wenn 30 Prozent der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat weiblichen Geschlechts sein müssten. Ja, es drohe das Risiko, dass "Frauen in den Aufsichtsrat einziehen würden", die den nötigen "Rückhalt in der Belegschaft nicht haben".
VDA prallt ab – "Zuarbeit" von VW-Chef
Oft schreibt der VDA-Präsident Wissmann an die Regierungszentrale. Er wirbt gerne öffentlich und auch in kleiner Runde bei den Autobossen mit seinem guten Draht zu Merkel. Doch die wimmelt ihn schon mal ab; seine Gesprächswünsche enden in der Regel beim Kanzleramtsminister, also beim lieben Ronald und jetzt beim lieben Peter.
Wenn es ernst wird, muss der VW-Chef selber ran. Merkel benutzt ihn immer wieder auch als Ratgeber, lässt sich von ihm Papiere zu den nötigen Reformen auf dem spanischen Arbeitsmarkt zuschicken und wird von ihm vorab über Personalinterna aus Wolfsburg gebrieft. Winterkorn wolle sie "vertraulich über personelle Planungen in der Volkswagenführung informieren", kündigt Lobbyist Steg im Januar 2014 an. Im März 2014 wissen die Merkel-Zuarbeiter, dass es da um den Konzernchef und "seine persönlichen Überlegungen zum Verbleib an der VW-Spitze" geht. Und immer wieder reden die Kanzlerin und der Konzernboss über China. VW verfügt dort über 19 Werke und ist Marktführer. Merkel ist schon lange fasziniert von der Dynamik im fernen Osten, die sie im eigenen Land ein bisschen vermisst.
An einem Strang für TTIP
Vor Gesprächen mit der Regierung in Peking stimmt sich die Kanzlerin also gerne mit dem VW-Chef ab, bittet um seine "Zuarbeit", wie es an einer Stelle in den Akten heißt. Und beim Kampf gegen allzu strenge Abgaswerte aus Brüssel und für TTIP ziehen Regierung und Autoindustrie sowieso an einem Strang. Einwände gegen das Freihandelsabkommen seien "in der Sache unbegründet", schreiben die Beamten noch am 9. März diesen Jahres für den Amtschef Peter Altmaier auf. Die Autoindustrie dürfte von TTIP "in besonderer Weise profitieren" – das könne er gegenüber dem Cheflobbyisten Matthias Wissmann vortragen. Die Autoindustrie stehe "nachdrücklich" hinter TTIP, heißt es an einer anderen Stelle in den Unterlagen. Einsparungen von einer Milliarde Euro seien für die deutschen Hersteller allein beim Abbau von Zöllen drin.
Aber manchmal muss sich Merkel auch mit scheinbar nebensächlichen Dingen befassen. Kurz vor dem Besuch mit dem Chinesen in Wolfsburg nach der Hannover-Messe 2012 will sie noch einmal mit Winterkorn telefonieren. Die Beamten warnen sie vor, wegen einer wichtigen Detailfrage: Der VW-Chef werde eventuell die "Frage des Fahrzeugtyps aufwerfen, mit dem Sie und MP Wen in Wolfsburg vorfahren werden. Hintergrund: VW konnte auf Nachfrage bislang kein adäquates Fahrzeug (Bus mit ausreichendem Loungebereich) aus Produktpalette des VW-Konzerns für Transfer Hannover-Wolfsburg benennen. Geplant ist deshalb Vorfahrt mit Mercedes-Bussen; diese könnten ‚neutralisiert’ werden (Austausch der Radkappen, Entfernen des Mercedes-Sterns)."
Geschah das so? VW ließ Fragen des stern zu dem Vorgang unbeantwortet.