Dieser Artikel erschien zuerst bei ntv.de
Wenn Jens nachts das Haus verlässt, ist er nicht allein. In seiner Jackentasche versteckt sich eine ungewöhnliche Begleiterin. Sie ist klein und rund und passt perfekt in das Ventil von Autoreifen: die Tellerlinse. Was andere in ihren Vorratskammern lagern, nutzt Jens für seinen Kampf gegen den Klimawandel. Er ist ein "Tyre Extinguisher", sein Feind der SUV.
"Tyre Extinguishers" - das klingt wie "Fire Extinguisher" (Feuerlöscher) und ist auch so gemeint. Auf ihrer Website erklären die selbst ernannten Klimaaktivisten, warum sie den Sports-Utility Vehicle zum Feindbild erklärt haben und wie sie ihn loswerden wollen: Reifenventil aufdrehen, Linse einlegen, Kappe wieder aufdrehen. "Wenn es schnell geht, ist der Reifen in 30 Minuten platt", sagt Jens bei einem Treffen mit ntv.de. Ein Flugblatt hinter dem Scheibenwischer soll die Eigentümer warnen. "Es liegt nicht an Ihnen, sondern an Ihrem Auto", steht darauf. Dann folgt eine ausführliche Erklärung, wie schädlich, tödlich und unnötig SUVs für die Menschheit seien.
Eigenen Angaben zufolge sind die "Tyre Extinguishers" seit 2022 aktiv. Ihren Ursprung hat die Gruppe in Großbritannien, Nachahmer finden sich mittlerweile weltweit. Auch in Deutschland werden die Aktionen der Gruppe immer öfter publik. In Berlin seien im vergangenen Jahr rund 1100 Strafanzeigen wegen platter Autoreifen eingegangen, berichtet die Polizei auf Anfrage. Das vermutete Dunkelfeld sei deutlich höher. Eine Tatverdächtige habe man auf frischer Tat festgenommen - die Ermittlungen hierzu liefen.
SUV-Anteil erreicht in Deutschland Rekordwert
Anhaltende Kritik von Umwelt- und Klimaschutzbehörden scheint der Popularität von SUVs keinen Abbruch zu tun - im Gegenteil. Laut Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) war im vergangenen Jahr fast jeder zweite verkaufte Neuwagen ein SUV. Weltweit lag die Quote bei rund 48 Prozent, in Europa machten SUVs bei den Neuzulassungen mehr als die Hälfte aus. Auch in Deutschland wurden im vergangenen Jahr rund 855.700 der Offroad-Modelle neu zugelassen. Damit erreichte der SUV-Anteil laut Kraftfahrtbundesamt einen Rekordwert von knapp über 30 Prozent.
Eine Analyse des Vergleichsportals Check24 erklärte Potsdam im vergangenen Jahr zur deutschen SUV-Hochburg. Nirgends sei die Dichte von geländegängigen Fahrzeugen höher. Jens, der in Wahrheit anders heißt, sah den entsprechenden Beitrag im rbb. Kurze Zeit später friemelte er seine erste Linse in ein Reifenventil. "Hat direkt funktioniert", sagt er und schmunzelt. Von den "Tyre Extinguishers" habe er über Medienberichte erfahren.
Etwa einmal in der Woche geht Jens seither auf die Jagd. "Wenn die Gegend es hergibt, schaffe ich in zwei bis drei Stunden um die 100 SUVs", erzählt er. Genügend Flyer habe er immer dabei. Er wolle auf keinen Fall, dass jemandem etwas zustoße. Von wem die Idee mit der Linse stammt, wisse er nicht. Welche am besten passt hingegen schon. Zum Beweis zieht er ein Päckchen aus seinem Rucksack hervor. "Berglinsen ungeschält" steht auf dem Etikett.
Eine Milliarde Tonnen CO2
SUVs sind größer und schwerer als herkömmliche Autos. Entsprechend ist auch ihr Energieverbrauch deutlich höher. Laut Studie der IEA verbrauchen SUVs etwa 20 Prozent mehr Treibstoff als gewöhnliche Mittelklassewagen. Trotz des zunehmenden Verkaufs von Elektromodellen stießen die 330 Millionen SUVs weltweit im Jahr 2022 fast eine Milliarde Tonnen CO2 aus. Zum Vergleich: Der gesamte CO2-Ausstoß Deutschlands lag laut Umweltbundesamt im selben Jahr bei rund 750 Millionen Tonnen.
Für Jens macht der Umstand, ob ein SUV mit fossilem Brennstoff oder Strom betrieben wird, keinen Unterschied. Denn auch wenn Elektro- oder Hybridmodelle beim Fahren weniger CO2 ausstießen, sei da immer noch das Problem mit Größe und Gewicht, sagt er. Einer Analyse der "American Council for an Energy-Efficient Economy" zufolge sind große und schwere Autos trotz Elektrobetriebs teils schädlicher für die Umwelt als kleinere benzinbetriebene Fahrzeuge. Laut der IEA liegt dies unter anderem an den Emissionen, die bei der Herstellung verursacht würden. "Bevor du mit einem Elektro-SUV losfährst, ist dein Fußabdruck schon allein deshalb rund zehn Tonnen CO2 schwer", sagt Jens.
"SUVs töten mehr Menschen", heißt es auf der Website der "Tyre Extinguishers" außerdem. Ob dies zutrifft, ist schwer zu belegen. Eine Studie des "Insurance Institute for Highway Safety" (IIHS) aus dem Jahr 2022 zeigt zumindest, dass größere Fahrzeuge wie SUVs und Lieferwagen häufiger in tödliche Unfälle mit Fußgängern verwickelt sind. Das liege an der durch die Bauart eingeschränkten Sicht der Fahrer. Bei einer Untersuchung der Verletzungsrate von Radfahrern fand das IIHS heraus, dass auch diese bei Zusammenstößen mit SUVs schwerer verletzt würden als bei Unfällen mit herkömmlichen Autos. Grund dafür seien ebenfalls die erhöhten Fahrzeugfronten.
Auch Jens ist Fahrradfahrer. Bevor er sich dem Kampf gegen SUVs verschrieben hat, nahm er an Klimademonstrationen teil. Doch das war ihm letztlich zu viel Gerede, die Klebeaktionen der Letzten Generation hingegen zu riskant, die Strafen zu hoch.
"Es gibt keinen Anführer"
Anders als Fridays for Future oder die Letzte Generation besteht die Gruppe der "Tyre Extinguishers" aus Einzelgängern. "Es gibt keinen Anführer", sagt Jens. Unter den Mitgliedern bestehe kaum Kontakt, sie agierten autonom, Erfolge würden auf X, Facebook oder in Telegramgruppen gepostet.
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Sie sind reich an Proteinen, solange sie aus sauberen Gewässern stammen. Denn Muscheln filtern das Wasser, in dem sie wachsen. Weil Muscheln sich von Phytoplankton ernähren, benötigen sie nur einen Bruchteil des Ökosystems, um ihr Protein herzustellen. Kein anderes tierisches Eiweiß ist demnach nachhaltiger.
Auch Jens ist kein anderes Mitglied bekannt. Manchmal schickt er besonders erfolgreiche Feldzüge mit Foto und Ortshinweis an die Mailadresse der "Tyre Extinguishers". Wer oder wie viele dort am Schreibtisch sitzen, wisse er nicht. Auch eine Rückmeldung bekomme er selten. "Die sind relativ schmallippig", sagt er. "Ich denke, der Fokus soll hier, anders als zum Beispiel bei der letzten Generation, wirklich allein auf den Aktionen liegen." Auch deshalb agieren alle Mitglieder wohl weitestgehend anonym. Sie wollen unkenntlich bleiben, schlagen überwiegend nachts zu. Auch Jens möchte unter keinen Umständen erwischt werden. Wenn er nachts unterwegs ist, trägt er Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Staatsschutz ermittelt gegen die Klimaschutzgruppe
"Sachbeschädigung" lautet der Tatvorwurf in allen in Berlin anhängigen Ermittlungsverfahren zu geplätteten Autoreifen. Doch ganz so einfach ist das nicht. "Sollten durch das Ablassen der Luft Schäden an Reifen oder Felge entstehen, liege eine solche zweifelsfrei vor", sagt Benjamin Grunst, Fachanwalt für Strafrecht in der Kanzlei BUSE HERZ GRUNST Rechtsanwälte im Gespräch mit ntv.de. Schwieriger sei es, wenn lediglich die Luft aus dem Reifen entweiche, ohne dass es zu einem äußeren Schaden komme. "Diese Frage hat es sogar vor den Bundesgerichtshof geschafft", so Grunst. Entscheidend sei in diesem Fall, wie schnell der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden könne. "Steht das Fahrzeug in der Nähe einer Tankstelle, an der der Reifen aufgepumpt werden kann, ist die Beeinträchtigung nicht von Dauer - die Sachbeschädigung entfällt", erklärt Grunst. Bestehe eine solche Möglichkeit nicht, käme eine Sachbeschädigung durchaus in Betracht. Anders als bei den Klebeprotesten der Letzten Generation hält Grunst die Annahme einer Nötigung in diesen Fällen für unwahrscheinlich, es mangele an der körperlichen Zwangswirkung.
Wegen einer möglichen politischen Dimension hat auch der polizeiliche Staatsschutz erste Ermittlungen eingeleitet. Denn im engen Zusammenhang mit Staatsschutzdelikten stehen politisch motivierte Taten, die die freiheitlich demokratische Grundordnung bedrohen. "Bei der Gruppierung "Tyre Extinguishers" werden wahllos Fahrzeuge aus politischen Gründen beschädigt", so Grunst. Sachbeschädigung sei zwar kein typisches Staatsschutzdelikt, wie etwa die Bildung einer terroristischen Vereinigung. Dennoch könne die Zuständigkeit hier gegeben sein.
Dass der Ärger der SUV-Eigentümer groß ist, kann Jens nachvollziehen. Mitleid hat er nicht. Bei den Mini-SUVs durchzucke es ihn manchmal. "Aber bei den richtig dicken Dingern - keine Chance." Da müsse man eigentlich noch extremer vorgehen, findet er. Seinen Traum von autofreien Städten werde er nicht aufgeben; ebenso wenig seinen Kampf dafür. Auch wenn der Zweck die Mittel in rechtlicher Sicht nicht heiligen dürfte - für Jens tut er es allemal.