Wenn Sie eine Leiche ausgraben, was ist dann der wichtigste Knochen? Welchen wollen Sie unbedingt finden?
Den Schädel.
Warum?
Einfach, weil er schön ist. Ich mag Schädel. Nein, im Ernst: Er ist wichtig für die Identifikation und zur Feststellung möglicher Todesursachen.
Wie lässt sich ein Mensch anhand des Schädels identifizieren?
Am besten anhand der Zähne. Darin finde ich meistens ein vollständiges DNA-Profil und ich habe außerdem noch den Zahnstatus – beides kann ich abgleichen mit den Profilen vermisster Personen. Das setzt natürlich voraus, dass die Person überhaupt vermisst wird.
Und welches ist der zweitwichtigste Knochen?
Die Beckenknochen.
Warum das Becken?
Anhand des Beckens kann ich verlässlich das Geschlecht identifizieren.
Was können Sie noch ablesen an den Knochen?
Das ungefähre Alter zum Beispiel. Ich kann feststellen, ob die Wachstumsfugen schon geschlossen sind, dann weiß ich, dass es sich um eine erwachsene Person handelt.
Lässt sich das Alter noch genauer feststellen?
Das ist schwierig. Ein 30-Jähriger kann so abgenutzte Knochen haben wie viele Mittvierziger. Beim Alter lege ich mich deswegen nur auf einen Bereich fest, eine 15-Jahres-Spanne etwa.
Wie macht sich der Lebenswandel eines Menschen an den Knochen bemerkbar?
Naja, wenn ich einen Menschen habe, der als Handwerker sein Leben lang auf Knien gearbeitet und immer den rechten Arm belastet hat, dann hinterlässt das Spuren. Bei den Büromenschen von heute, die immer auf den Bildschirm starren, sieht man das vor allem im Halswirbelbereich.
Verraten die Knochen noch mehr über den Lebenswandel?
In besonders wichtigen Fällen veranlassen wir eine Isotopen-Untersuchung, die uns verraten kann, woher ein Mensch geographisch stammt.
Wie funktioniert das?
Wir nehmen ja ständig Dinge zu uns, trinken Wasser, essen Nahrungsmittel, atmen Meeresluft, wenn wir an der Küste leben. Das alles hinterlässt Spuren, die wir im Laufe unseres Lebens auch in den Knochen ablagern. Und mithilfe einer Isotopen-Untersuchung kann man dann Rückschlüsse auf die Herkunft eines Menschen ziehen, also ob er etwa aus dem asiatischen Raum stammt oder aus Nordeuropa. Es gibt nur ein Problem: Heute sind Menschen sehr mobil, sie leben mal hier, mal dort, das macht es schwerer.
Kann ich anhand der Knochen feststellen, wie lange ein Mensch schon tot ist?
Auch dafür gibt es eine Untersuchung. Die Radiocarbondatierung. Wenn wir sterben, dann löst sich Stück für Stück der Kohlenstoff in unseren Knochen auf. Je mehr Kohlenstoff zerfallen ist, desto länger ist der Mensch tot. Es ist aber eine sehr grobe Methode.
Wie grob?
Ich kann feststellen, ob jemand vor 100 oder vor 500 Jahren gestorben ist. Aber leider nicht, ob er vor zwei Jahren oder vor zehn Jahren vergraben wurde.
Kann ich anhand der Knochen die Todesursache feststellen?
Das kommt darauf an. Bei massiver Gewalt sehe ich Knochenbrüche. Aber wenn jemand mit Messerstichen oder Schüssen in den Bauch getötet wurde, ohne dass Knochen dabei verletzt wurden, kann ich das am Skelett nicht erkennen. Im Bauch gibt es keine Knochen, da muss der Stich oder der Schuss schon die Wirbelsäule getroffen haben. Deswegen ist es so wichtig, dass die Fundstelle einer Leiche sehr gründlich untersucht wird und man keine Projektile oder Waffen übersieht. Schade ist, wenn mich die Polizei anruft und sagt, eine Tüte mit Knochen sei auf dem Weg zu mir.
Wie meinen Sie das?
Dann packe ich hier die Tüte aus und habe die Knochen auf dem Tisch liegen. Aber mir fehlen alle Infos vom Fundort. Wurden wirklich alle Knochen gefunden, die dort oder in der Nähe lagen? Wenn wir zum Beispiel über eine Leiche im Wald reden, sag ich den Leuten immer: Ein Fundort ist dreidimensional, man sollte nicht nur auf den Boden schauen, sondern auch nach oben. Vielleicht hängt da noch ein Rest von einem Strick am Baum. Das Beste ist deswegen, dass ich von Anfang an dabei bin. Ich habe deswegen auch immer mein Werkzeug im Auto.
Welches Werkzeug?
Einen Eimer und ein paar Kellen. Mit denen grabe ich. Man muss wissen, wie man gräbt. Ich arbeite zwar in der Rechtsmedizin, aber ich bin auch Archäologin. Ich weiß, wie man vorsichtig einen Menschen freilegt, ohne Spuren zu zerstören.
Macht Ihnen das Graben Spaß?
Ich bin lieber draußen als am Schreibtisch. Es ist wie ein Puzzle-Spiel. Man arbeitet sich Zentimeter für Zentimeter von Knochen zu Knochen und langsam fügt sich ein Bild zusammen. Und wenn man Glück hat, weiß man am Ende wirklich, wer genau da liegt und wie die Person zu Tode kam.
Was fasziniert Sie so sehr an Knochen?
Sie verraten uns so viel über den einzelnen Menschen, die Knochen erzählen uns seine Geschichte.
Fällt es Ihnen gar nicht schwer, an Leichen zu arbeiten?
Es ist ja leichter, wenn es nur noch Knochen gibt. Aber klar, es ist nichts für jeden. Am Anfang meiner Ausbildung nahm mich mein alter Chef mit zu einer Obduktion eines Leichnams. Das konnte ich gut ab. Danach sagte er: ,Die ist leichenfest. Die können wir gebrauchen.‘
Wie wollen Sie selbst eigentlich mal bestattet werden?
Ich werde verbrannt, ganz sicher. Ich will nicht, dass mich jemand ausgräbt. Nein, im Ernst: Ich finde die Idee charmant, dass irgendwann vielleicht erlaubt ist, dass meine Familie meine Asche in einem Behältnis mit nach Hause nehmen kann. Und wenn der Liebste dann auch verstirbt, dass man beides in eine Urne tut und vermischt. Und irgendwann dann vielleicht an der Küste in den Wind streut.
Die Spurenarbeit der Rechtsmedizin ist auch Thema des neuen Serienpodcasts „Frauke Liebs – die Suche nach dem Mörder“. Frauke Liebs verschwand 2006 nach einem Kneipenbesuch in Paderborn. Nach ihrem Verschwinden hatte sie Familie und Freunde noch an mehreren Tagen mit ihrem Handy angerufen und Nachrichten gesendet. Monate später fand ein Jäger ihre Leiche in einem entlegenen Wald.