Frederike von Möhlmann war 17 Jahre alt, als sie 1981 im Landkreis Celle (Niedersachsen) erst vergewaltigt und dann ermordet wurde. Für die Tat verurteilte das Landgericht Lüneburg Ismet H., damals 22 Jahre alt, gut ein halbes Jahr später zu lebenslanger Haft. Der Bundesgerichtshof kassierte das Urteil, der Fall wurde in Stade neu verhandelt – der Prozess endete mit einem Freispruch für H.
31 Jahre nach der Tat zeigte die in den 1980er-Jahren noch nicht mögliche Auswertung von DNA-Spuren: Ismet H. kommt doch als Mörder infrage. Doch einen neuen Prozess gab es nicht. Wer einmal wegen einer möglichen Straftat freigesprochen wurde, darf in der Regel nicht erneut wegen dieser Tat vor Gericht gestellt werden. "Ne bis in idem" – nicht zweimal in derselben Sache – ist einer der Grundsätze in unserer Rechtsordnung. Er steht sogar im Grundgesetz. Die Regelung soll dem "Rechtsfrieden" dienen. Gäbe es sie nicht, so argumentieren die Befürworter, wäre jeder Freispruch nur ein "Freispruch bis auf Weiteres" – und damit nur die Hälfte wert. Denn der Freigesprochene müsste damit rechnen, dass er wegen desselben Delikts auch Jahre später noch erneut vor Gericht gebracht werden kann.
Der Fall Frederike von Möhlmann führte 2021 zu einem Umdenken in der Politik – auch weil ihr im vergangenen Jahr verstorbener Vater keine Ruhe gab. Er sammelte unter anderem 180.000 Unterschriften für eine Petition, in der eine Änderung des Gesetzes gefordert wurde. 2021 novellierte der Bundestag schließlich die Strafprozessordnung. Seither können mutmaßliche Mörder bei Vorliegen neuer Beweismittel erneut vor Gericht gestellt werden – der Weg für ein neues Verfahren gegen Ismet H. schien frei. Er kam in Untersuchungshaft.
Im vergangenen Jahr legte H. jedoch in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein. In einem Eilverfahren entschied das Bundesverfassungsgericht, dass H. aus der U-Haft entlassen werden muss. Die Kammer äußerte zudem Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Änderung der Strafprozessordnung.
An diesem Mittwoch wird in Karlsruhe nun abschließend über die Verfassungsbeschwerde von Ismet H. entschieden. Bekommt er Recht und die Richter kassieren das Gesetz, das eine Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen würde, so bliebe er auf freiem Fuß und wird wohl nie verurteilt werden können. Lehnt das Verfassungsgericht seine Beschwerde jedoch ab, dürfte es schon bald zu einem neuen Prozess kommen. Angesichts der erdrückenden Beweislast durch die inzwischen ausgewerteten DNA-Spuren dürfte Ismet H. wohl zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Für die Schwester von Frederike von Möhlmann wäre es eine große Genugtuung. Nach dem Tod des Vaters hat sie dessen Kampf um späte Gerechtigkeit weitergeführt. Sie vertraue darauf, dass das Gesetz so bleibt, wie es ist, und der Mann, der Frederike umgebracht habe, endlich zur Rechenschaft gezogen werde, sagte Wolfram Schädler, der Anwalt der Schwester, im Vorfeld der Verhandlung dem stern. "Sie hofft sehr, dass sie und ihre Familie nach über 40 Jahren endlich zur Ruhe kommen können."
Über die schwierige Abwägung zwischen dem Festhalten an rechtsstaatlichen Prinzipien und der Möglichkeit, dass ein Mörder frei herumläuft, verfasste stern-Reporterin Frauke Hunfeld ihren Essay "Frieden finden". Er erschien im Februar 2016 in stern Crime. Anlässlich der Verhandlung in Karlsruhe veröffentlichen wir ihn an dieser Stelle in aktualisierter Form erneut:
Frieden finden
Irgendwann muss doch Schluss sein. Irgendwann muss doch vergessen sein, was war, selbst wenn es nicht vergeben wurde. Irgendwann kann man die 50 Euro, die man vor Jahren verliehen hat, nicht mehr zurückfordern. Irgendwann spielt es keine Rolle mehr, wer damals Susis Rad geklaut und dann am Freibad stehen lassen hat. Irgendwann reden wir einfach nicht mehr darüber. Eltern vergeben ihren Kindern, Kinder verzeihen ihren Eltern, Enttäuschungen, sogar Vernachlässigung, sogar Schläge. Wie sollen wir leben, wie miteinander umgehen, wenn alles, was wir jemals falsch gemacht haben, alle Sünden, jede Schwäche und jedes Versagen, immer wieder auf den Tisch kommt? Kein Mensch hält das aus.