Immer mehr Bürger lehnen die Proteste der Letzen Generation ab und nicht wenige reagieren mit Gewalt auf Sitzblockaden. Doch wie schlimm ist es wirklich? Der stern hat bei Polizei und Staatsanwaltschaften nachgefragt.
Bei Sitzblockaden und Klebeaktionen hat Raúl Semmler schon einiges erlebt. Er wurde beleidigt, weggezerrt und erhielt Morddrohungen. Die bisher schlimmste Erfahrung: "Mehrere Meter an den Haaren weggeschleift zu werden und nicht zu wissen, wie lange das dauert", sagt er. Ein anderes Mal habe ihn ein Feuerwehrmann von der Straße abgerissen, obwohl Semmler da schon mit einem Sand-Klebegemisch am Boden klebte.
Was der Klimaaktivist im Gespräch mit dem stern beschreibt, deckt sich mit Ereignissen in zahlreichen Videos, die im Netz kursieren. Der jüngste Filmausschnitt stammt von einer Protestaktion aus Mannheim Anfang September. Fünf Klimaaktivisten sitzen auf einer Straße. Ein Autofahrer packt einen Aktivisten und wirft ihn auf einen Grünstreifen neben der Fahrbahn; zwei weiteren Aktivisten tritt er in Bauch und Seite, schlägt einem gegen den Kopf. Ein weiterer Mann reißt einem anderen Aktivisten ein Plakat aus der Hand.
Gewalt gegen die Letzte Generation gab es von der ersten Protestaktion an, zeigen Videos von damals. Und mit jedem weiteren Beitrag wächst der Eindruck, dass die Gewalt weiter zunimmt. Der stern hat Hunderte Videos auf dem Twitter- und Instagram-Kanal der Letzten Generation gesichtet. Davon dokumentieren 51 aggressives Verhalten von Polizisten, Autofahrern und Passanten. Die Zahl entsprechender Beiträge ist im Vergleich zum letzten Jahr stark gestiegen. Dass Menschen gegenüber friedlichen Demonstrationen gewaltsam reagieren, bezeichnet Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung als "Grenzüberschreitung von Menschen, die in Selbstjustiz entscheiden, wie mit dem Protest umgegangen werden soll". Die Lage zeige auch, dass den Reaktionen auf die Klimaproteste keine Grenzen gesetzt sind. Politiker äußern sich zu den Gewalttaten bisher nicht. Und die Strafverfolgungsbehörden?
Mindestens 150 Übergriffe auf die Letzte Generation
Die haben nur ein vages Bild zur Gewalt gegen die Klimaaktivisten, zeigt eine stern-Umfrage bei Polizeibehörden, Landeskriminalämtern (LKA), Innenministerien der Länder und Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland. Mehr als 150 Fälle von Gewalt gegen Klimaaktivisten haben die Beamten in Deutschland registriert (Stand 15. September 2023). Die meisten davon melden die Behörden aus Berlin (98), Bayern (13), Sachsen-Anhalt (11) und Sachsen (11).
Dass vor allem in Berlin so viel passiert, liegt daran, dass die Hauptstadt ein Protest-Hotspot der Letzten Generation geworden ist. Allein im Jahr 2022 fanden dort laut Polizei 294 Klimaproteste statt. Bis zum 20. Juni 2023 zählten die Beamten noch einmal genau so viele – mehr als überall sonst.
Zu den am häufigsten gemeldeten Delikten zählen Körperverletzung, Nötigung und Beleidigungen durch verärgerte Bürger. Dazu teilt ein Sprecher der Letzten Generation auf Anfrage des stern schriftlich mit: "Gewalt von Autofahrenden und Passant:innen kommt regelmäßig vor, besonders wenn wir alltägliche, verbale Gewalt dazuzählen. Beleidigungen darf aber niemand persönlich nehmen und das tut glaube ich auch niemand." Um Gewalt zu verhindern, würden sich die Aktivisten mittlerweile auch erst dann auf der Straße festkleben, wenn die Polizei vor Ort sei.
Aber nicht nur genervte Passanten gehen die Aktivisten körperlich an, auch die Polizei greift durch – und darf das, wenn es verhältnismäßig ist, auch. Daten zur Polizeigewalt konnten die Innenministerien der Länder bis Erscheinen dieses Textes nicht vorlegen. Die Videos in den sozialen Netzwerken zeigen allerdings einen Rückgang. Das bestätigt auch die Letzte Generation. "Polizeigewalt (...) sind absolute Ausnahmen", heißt es. Auch Schmerzgriffe würden heute seltener eingesetzt als noch vor einem Jahr.
Meistens werden die Aktivisten von Passanten und Autofahrern angegangen. Laut Polizei wurde dabei in 15 Fällen Anzeige erstattet – allerdings nicht von der Letzten Generation, sondern von Dritten, wie es heißt. In den restlichen Fällen seien die Ermittlungen von Amts wegen eingeleitet worden. Dass die Klimabewegung selbst keine Anzeige erstattet, hängt mit ihrer gewaltfreien Protest-Philosophie zusammen. Anzeige zu erstatten, sei nicht zielführend. "Einzelnen Aktivist:innen, die Gewalt erfahren haben, steht es aber natürlich bei Grenzüberschreitungen frei, diese unabhängig von der Letzten Generation auch anzuzeigen", teilt der Letzte-Generation-Sprecher mit.
Daten wenig belastbar
Die Zahlen zu gewaltvollen Übergriffen auf Klimaaktivisten sind jedoch kaum belastbar, denn sie werden an keiner Stelle in der gesamten Bundesrepublik gesondert erhoben und gesammelt. Die von den Behörden übermittelten Zahlen stammen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik und Daten zur politisch motivierten Kriminalität des Bundeskriminalamtes (BKA). Die können nur auf Tatmotive und bestimmte Berufsgruppen durchsucht werden. Klimaaktivisten werden dort nicht gesondert gelistet. Alle Vorfälle im Zusammenhang mit Klimaprotesten müssen einzeln erhoben werden, erklärt eine BKA-Sprecherin auf Anfrage. Das ist aufwendig und wegen der vergleichsweise geringen Fallzahlen in vielen Bundesländern uninteressant. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitete allerdings daran, das System zu erweitern. Der Begriff "Klimaaktivist" könnte künftig in der Datenbank hinterlegt werden, um konkrete Vorfälle im Zusammenhang mit den Protestaktionen schneller aufzufinden.
In Bayern gibt es seit diesem Jahr in der polizeilichen Kriminalstatistik die Kategorie "gefahrengeneigter Klimaaktivismus". Dort können Straftaten im Zusammenhang mit Klima- und Umweltschutz konkreter erfasst werden. Inwiefern Aktivisten selbst zu schaden kommen, können die Behörden damit aber auch nicht eindeutig feststellen.
Die Polizeibehörden selbst betonen auf Anfrage wiederholt, dass jede Straftat gegen Klimaaktivisten konsequent verfolgt und verurteilt werde. Von allen in Deutschland angefragten Staatsanwaltschaften meldeten acht insgesamt 13 Verfahren aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern Verfahren gegen Personen, die Klimaaktivisten bei Blockadeaktionen angegriffen haben. Wie die Verfahren ausgingen und ob es Konsequenzen für die Täter gab, ist nicht in allen Fällen bekannt. Ungefähr 190 weitere Verfahren laufen derzeit in München wegen Hatespeech zum Nachteil von Klimaativisten, teilt die Generalstaatsanwaltschaft dem stern mit. Auch diese Daten basieren nicht auf gesammelten Informationen, sondern auf Erinnerungen der zuständigen Juristen.
Gewalttäter gegen Letzte Generation sind eine Minderheit
Konfliktforscher Jannis Grimm von der FU Berlin kritisiert den Umgang der Behörden mit den Aggressionen gegen die Klimaaktivisten. "Die zögerliche Verurteilung der Gewalt von Privatpersonen durch Polizeibehörden und politische Entscheidungsträger hat mit dazu geführt, dass sich Leute auf der Straße zur Selbstjustiz ermächtigen." Ironisch sei dagegen, dass die vielbeschworene Radikalisierung der Letzten Generation ausgeblieben sei, während sich die Reaktionen auf die Blockadeaktionen radikalisiert hätten.
Protestforscher Teune glaubt, dass die Hemmschwelle gegenüber den Klimaaktivisten gesunken sei, weil die Proteste für illegitm erklär wurden. "Wenn Begriffe wie Klima-RAF oder Klima-Terroristen verwendet werden, dann fühlen sich Menschen berechtigt, Gewalt anzuwenden", erklärt er.
Allerdings betonen beide Forscher, dass es sich bei den Gewalttätern gegen die Aktivisten um eine Minderheit handelt. Unklar sei zudem, aus welchen sozialen Schichten und Milieus die Leute stammen. Dazu gäbe es keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Aus seinen Beobachtungen weiß Konfliktforscher Grimm allerdings, dass sowohl Arbeiter im LKW, als auch Menschen mit teuren Sportwagen zu den Tätern zählen.
"Die Mehrheit der Bevölkerung begegnet der Klimabewegung aber nicht mit Gewalt, sondern mit vorsichtiger Ablehnung", sagt Grimm. Mehrere Studien haben wiederholt gezeigt, dass die Bevölkerung die Protestform zwar ablehnt, allerdings mit den Forderungen und Zielen der Letzten Generation sympathisiert.
Dass viele Politiker und Behörden die Gewalttaten gegen die Klimaaktivisten bisher nicht klar verurteilt haben, führt Grimm auf ein strategisches Dilemma zurück: "Man möchte die Gruppe einerseits nicht als Opfer aufwerten, gleichzeitig aber auch nicht als die Regierung dastehen, die nichts unternimmt, um die Aktionen zu beenden." Von den Innenministern der Länder erhofft er sich, bald etwas zu unternehmen, bevor ein Motorrad- oder LKW-Fahrer die nächste Sitzblockade einfach überrollt.
Genau davor fürchtet sich Klimaaktivist Raúl Semmler. Die Klimakatastrophe sieht er aber als viel größere Gewalt – deshalb will er weiter auf den Straßen blockieren. Mit der Gewalt vor Ort habe er gelernt umzugehen. "In unseren Trainings wird alles sehr realitätsnah durchgespielt." Egal ob Beschimpfung, Beleidigung oder körperlicher Angriff: Die Aktivisten seien vorbereitet. Wer nach den Aktionen Hilfe benötige, finde professionelle Hilfe durch die Gruppe.
Die Gewalt begleitete die Aktivisten seit ihrer ersten Sitzblockade, sagt Semmler. Damals sei ein Handwerker aus dem Auto gestiegen und habe gedroht, einen Vorschlaghammer zu holen. "Letztlich kam er nur mit einem Lineal zurück und hat uns nichts angetan. Aber die Gewalt ist immer spürbar, vor allem in Berlin", schildert er. Und so schnell wird es auch nicht vorbei sein. "Aber wenn Olaf Scholz den Wandel in der Klimapolitik nicht hinbekommt, dann braucht es jetzt diese Störungen." Auch wenn damit der nächst Übergriff wartet.