Crime Story Das Dorf

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  • von Veronica Frenzel
Hoch in den Pyrenäen liegt das Örtchen Tor. Es war schon immer ein Reich mit eigenen Regeln. Aber es war friedlich. Bis der Fortschritt kam, der Neid – und schließlich der Hass
Tor
Nur wenige Stunden am Tag strahlt die Sonne ins enge Tal von Tor. Fremde verirren sich selten hierher
© Hahn+Hartung

Die beiden Landstreicher hatten Hunger. Darum waren sie nach Tor hinabgestiegen. Doch in dem kleinen Gasthaus des Dorfes gab man ihnen nichts, sie hatten schon zu oft gefragt. Also beschlossen sie, bei Sansa einzusteigen.

*

Der Alte war der Einzige, der das ganze Jahr hier oben im Dorf lebte, in seinem heruntergekommenen Hof, aber nun war er seit Tagen abgetaucht, wahrscheinlich wieder bei den Prostituierten in Barcelona. Wenn er erfuhr, dass sie sich aus seinem Vorratsschrank bedienten, würde er toben. Doch er musste ja nichts davon wissen, und überhaupt: Sie waren seinetwegen in diesem gottverdammten Tal, von dem sie zwei Tagesmärsche zurück in die Zivilisation brauchten und wo es nichts zu essen gab, außer man jagte im Wald danach.

Josep Montané
Josep Montané, genannt „Sansa“
© Hahn+Hartung

Sansa hieß eigentlich Josep Montané. Doch alle im Tal riefen ihn nur mit dem Hausnamen seiner Familie, der „Sansas“. Er hatte die beiden Herumtreiber im Frühjahr in einem der tiefer gelegenen Täler angesprochen und sie überredet, ihre Zelte oberhalb von Tor aufzuschlagen. Er würde ihnen dafür auch einen Teil der herrlichen Weiden schenken. Die beiden hatten ihm natürlich nie wirklich geglaubt. Aber wer sich so großzügig gab, der musste ihnen zumindest ab und an ein bisschen Wurst und Käse überlassen. Zum Beispiel heute.

Sansas Hof
Sansa verließ selten seinen heruntergekommenen Hof
© Hahn+Hartung

Der ältere Landstreicher hielt mit den Hunden, einem ganzen Rudel Mischlinge, Wache vor der ausrangierten roten Aufzugstür, die der exzentrische Alte zur Pforte umfunktioniert hatte. Der Jüngere kletterte durch ein Fenster ins Haus.

Schon als er den Laden aufklappte, stieg ihm ein wider­licher Geruch in die Nase. Der alte Wirrkopf hatte bestimmt irgendwo ein Stück Fleisch liegen lassen. Der Landstreicher sprang auf die knarzenden Holzdielen. Nur die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, brachten ein wenig Licht ins Haus. Er wartete einen Moment, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnten, und ging zu der kleinen Küche. Der Gestank wurde unerträglich.

Erschienen in stern Crime 16/2017