Nach dem verheerenden Einsturz einer Schule in Haiti ist deren Betreiber festgenommen worden. Dem Priester, der das Collège La Promesse in einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince auch baute, wird nach Polizeiangaben fahrlässige Tötung vorgeworfen. Er wurde am Sonntag in einem Polizeirevier festgehalten, während Rettungskräfte unter den Trümmern weiter nach Überlebenden suchten. Die Zahl der Toten stieg bis zum Sonntag auf mindestens 88.
Am Samstag konnten die Suchmannschaften die Rettung von vier Kindern feiern. Ein Sprecher der UN-Polizei erklärte, zwei Mädchen im Alter von drei und fünf Jahren sowie zwei Jungen, ein Siebenjähriger und ein Jugendlicher, seien lebend aus den Trümmern gezogen worden. Er wisse nicht, wie schwer ihre Verletzungen seien. Die Dreijährige habe allerdings offenbar nur eine Schnittwunde erlitten. "Sie hat mit uns gesprochen und Saft getrunken", sagte Sprecher André Leclerc.
Haiti - Amerikas Armenhaus
Misswirtschaft und Naturkatastrophen haben aus der einst reichen französischen Kolonie Haiti in der Karibik das Armenhaus Amerikas gemacht. Das Nachbarland der Dominikanischen Republik auf der Insel Hispaniola ist mit 27.000 Quadratkilometern fast so groß wie das deutsche Bundesland Brandenburg. Etwa 80 Prozent der 8,5 Millionen Einwohner leben am Rand des Existenzminimums. Ohne Überweisungen der drei Millionen im Ausland lebenden Haitianer wäre die Lage noch desolater. Wegen oft gewalttätiger Unruhen und ausufernder Kriminalität, aber auch wegen verheerender Tropenstürme mit Überschwemmungen wird immer wieder vor Reisen nach Haiti gewarnt.
Auf ein solches Wunder hoffte auch die 55-jährige Angélique Toussaint, die von einem Dach aus die Bergungsarbeiten verfolgte. Sie betete für ihre 13-jährige Enkeltochter, die seit dem Einsturz verschwunden ist. Ihre anderen drei Enkelkinder wurden am Freitag lebend gefunden. "Ich glaube, sie leisten gute Arbeit", sagte Toussaint über die Rettungskräfte. "Es geht ein wenig langsam voran, aber ich bin froh, dass all diese Menschen helfen."
Baumängel waren Behörden bekannt
Die Schule war nach Angaben von Behörden, Lehrern und Anwohnern wegen ihrer schlechten Bausubstanz seit Jahren in Verruf. Dennoch waren am Freitag bis zu 500 Kinder vom Kindergarten- bis zum Oberstufenalter im Collège La Promesse in Petionville, einer Vorstadtsiedlung in den Bergen über der Hauptstadt. Das Gebäude stürzte vollständig ein.
Obwohl die Ermittlungen zur Ursache noch liefen, zweifelten weder Anwohner noch Bürgermeisterin Claire Rudie Parent daran, dass Pfusch am Bau schuld sei: Französischlehrer Jimmy Germain sagte, das Gebäude sei vor acht Jahren schon einmal teilweise eingestürzt. Anwohner, die unterhalb der Schule wohnten, seien weggezogen, weil sie wegen Baumängeln beim Wiederaufbau einen erneuten Einsturz befürchteten. Die dritte Etage des Schulgebäudes sei immer noch im Bau gewesen, sagte die Bürgermeisterin. Ursache des Unglücks sei ein Baufehler, nicht etwa der heftige Regen der vergangenen Wochen. Präsident René Préval sagte, es gebe überall in Haiti Gebäude, die wegen Baumängeln einsturzgefährdet seien. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer zu laxen Behördenaufsicht.
Eltern verdrängten Einsturzgefahr
Auch der 60-jährige Eric Nicolas wusste, dass mit dem Schulgebäude etwas nicht in Ordnung war. "Die Leute haben gesagt, dass die Schule einstürzen wird", sagte Nicolas. "Aber ich habe nie gedacht, dass es wirklich passieren würde." Und so schickte Nicolas seine beiden Söhne weiter in die Schule, auch weil sie so nah war. Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Seit Jahren ringt das karibische Land mit politischen Unruhen und Naturkatastrophen. Allein bei den Wirbelstürmen in diesem Jahr kamen nahezu 800 Menschen ums Leben. Von seinem kargen Lohn als Anstreicher kann Nicolas nur für zwei seiner sechs Kinder die jährliche Schulgebühr von umgerechnet 1.175 Euro bezahlen. Da war er froh, dass die beiden Söhne mittags zu Fuß zum Essen nach Hause kommen konnten und so das Geld für ein Sammeltaxi sparten.
Als Nicolas am Freitag den Donner hörte, wusste er sofort: "Das ist vielleicht die Schule." Er eilte dorthin und sah, wie Kinder aus den Trümmern gezogen wurden. Dann suchte er stundenlang seine beiden Söhne, ließ sich auch nicht von Polizeiknüppeln und UN-Soldaten davon abhalten. Der achtjährige Erickson wurde am Freitagabend noch vermisst. Der 17-jährige Frantzini aber hatte das Richtige getan: Er schwänzte die Schule und rettete so sein Leben.