Fünf Monate lang hilflos auf hoher See - diesen Albtraum haben die Seglerinnen Jennifer Appel und Natasha Fuiava überlebt. So erzählten sie es zumindest, nachdem ihre Segeljacht treibend im Pazifik entdeckt wurde. Mast und Motor seien im Sturm kaputt gegangen, kein anderes Schiff habe ihre Notsignale empfangen, sie und ihre beiden Hunde hätten sich am Ende nur von Haferflocken, Nudeln und Reis ernährt. Doch ihre Geschichte wirft bei genauerer Betrachtung so viele Fragen auf, dass sich US-Experten bereits skeptisch äußerten. Der stern hat daher den Segelexperten Guido Dwersteg um seine Einschätzung gebeten. Dwersteg weiß, was auf den Weltmeeren passieren kann: Er hat allein an Bord einer Jacht Tausende Seemeilen zurückgelegt, bereits eine Dokumentation gedreht sowie ein Buch geschrieben. Er zweifelt im stern an einigen der von den Seglerinnen geschilderten Vorkommnissen.
1. War wirklich kein Funkkontakt möglich?
Laut der "New York Times" hatten die beiden Seglerinnen insgesamt sechs Kommunikationsgeräte auf ihrem Schiff. Nur: Alle hätten nicht richtig funktioniert - weil sie beschädigt waren, keine Verbindung aufbauen konnten oder die Notsignale von umliegenden Schiffen nicht empfangen wurden. "Murphy's Law", winkt Appel gegenüber der Zeitung ab. Der Vorführeffekt. Wirklich?
"Bei guten Wetterverhältnissen und einer optimalen Antennenhöhe liegt der Radius eines UKW-Funkgeräts bei ungefähr 20 bis 30 Seemeilen (37 bis 55 Kilometer, Anm. d. Red.)", sagt Dwersteg. Auch Appel und Fuiava hatten ein solches Gerät an Bord. "Bei einem modernen Gerät lässt sich auch ein digitaler Notruf an alle umliegenden Schiffe in diesem Radius absenden, dafür muss eigentlich nur ein Knopf gedrückt werden." Dass niemand dieses Notsignal bekommen haben könnte, hält Dwersteg für unwahrscheinlich: "Zwar ist der Kanal 16 (üblicher Kanal für Notsignale, Anm. d. Red.) nicht immer besetzt, gerade bei großen Schiffen, doch über einen so langen Zeitraum ist es unwahrscheinlich, dass niemand die Notsignale erhalten hat."
Wie Appel und Fuiava schildern, seien einige Geräte nach einem schweren Sturm ausgefallen. "Das ist Elektronik. Wenn sie nass wird, kann sie auch kaputt gehen", sagt auch Dwersteg. Allerdings: Auch eine sogenannte Emergency Position Indicating Radio Beacon (EPIRB) soll sich an Bord befunden haben, wie ein Sprecher der US-Küstenwache im Gespräch mit den Seglerinnen herausgefunden habe. Die EPIRB sendet ebenfalls Notsignale aus - "welche über Satellit einen Datensatz mit allen wichtigen Informationen wie Position etc. an eine zentrale Rettungsstelle versendet", so Dwersteg. Das Gerät sei wasserdicht und habe eine langlebige Batterie. "Die EPIRB ist für den Worst-Case", erklärt der Segel-Experte dem stern. Wie Appel und Fuiava später eingeräumt haben, hätten sie das Gerät nicht benutzt. Weil sie keine (Lebens-)Gefahr für sich gesehen hätten. Bei angeblichen Hai-Angriffen, einem schweren Sturm und einem kaputten Boot ist das kaum zu glauben. Zumal sie, nach eigener Aussage, oft nicht gewusst hätten, ob sie am nächsten Morgen den Sonnenuntergang erleben würden.
2. Konnte sie der Pazifik überhaupt so weit treiben?
Eigentlich wollten die Seglerinnen von Hawaii nach Tahiti segeln. Für ihre Route hatten sie 18 Tage eingeplant. Letztlich wurden es ungefähr fünf Monate. Am 30. Mai geriet ihr Boot in einen Sturm, der die Maschine und den Mast beschädigt habe. Von da an trieben sie hilflos über das Meer, heißt es. Nach ihrer uferlosen Odyssee wurden sie rund 1500 Kilometer vor Japan gefunden und gerettet. Nur: Konnten das Schiff in diesem Zeitraum überhaupt so weit treiben?
Eines vorweg: Da bisher nicht überliefert ist, wann sich die Seglerinnen wo genau befunden haben, kann nur gemutmaßt werden.Die Luftlinie zwischen Honolulu (Hawaii, Startpunkt der Seglerinnen) und Choshi (Japan, frühes Festland im äußersten Osten) liegt bei ungefähr 6100 Kilometern. Das sind knapp 3300 Seemeilen. Gehe man von einer optimalen Strömung von zwei Knoten aus, so Dwersteg, hätten Appel und Fuiava 48 Meilen in 24 Stunden zurückgelegt. Mit dieser Geschwindigkeit hätten sie also innerhalb von knapp 70 Tagen das Festland in Japan erreicht.
Natürlich nur, wenn man davon ausgeht, dass die Seglerinnen kerzengerade bei konstant zwei Knoten getrieben wären. Das ist unrealistisch. Doch auch bei geringerer Geschwindigkeit und einem größeren Umweg (etwa durch den Nordpazifikwirbel) sei es zumindest nicht unmöglich, dass die Seglerinnen innerhalb von fünf Monaten rund 1500 Kilometer vor Japan getrieben sind, so der Segelexperte. Fraglich sei dabei nur, warum sie dabei nicht auf umliegende Inseln oder andere Schiffe gestoßen sind - und kein Funkkontakt herstellen konnten.
3. In welchen Sturm sind die Seglerinnen geraten?
Wie Jennifer Appel und Natasha Fuiava berichteten, seien sie auf ihrem Segeltörn in einen schweren Sturm geraten - der sie drei Tage im Bann gehalten haben soll. Wie die United States Navy zunächst berichtete, habe sich jener Sturm am 30. Mai ereignet. Allerdings habe der "National Weather Service" laut "BBC" keinen Sturm im Umkreis der Seglerinnen ausmachen können.
Auch ein Blick auf die Wetterkarte(n) vermittelt diesen Eindruck. Es hat im Mai zwei große Stürme im Pazifik gegeben, allerdings beide weit entfernt von der Route der Seglerinnen. So zog etwa Tropensturm "Adrian" vom 9. Mai bis 11. November in Richtung Mexiko, nachdem er sich rund 875 Kilometer vor der Küste von Salina Cruz (Mexiko) im Ostpazifik formiert hat. Der Sturm hat schnell an Stärke verloren und sich dementsprechend verflüchtigt.
Da bisher nicht überliefert ist, wann Appel und Fuiava genau gestartet sind (die Rede ist lediglich von "Mai") und wo sie sich zum Zeitpunkt von "Adrian" befunden haben könnten, ist ein endgültiges Urteil nicht zu treffen. Jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Seglerinnen mit "Adrian" in Berührung gekommen sind - so oder so. Liegt ihre Route doch weit fernab vom Weg des Tropensturms.


Zeitlich etwas realistischer ist eine Begegnung mit dem Sturm "Beatriz", der vom 31. Mai bis 2. Juni wütete. Am 2. Juni traf dieser auf Mexikos Festland, im Westen von Puerto Ángel. Allerdings müsste sich auch "Beatriz" weit entfernt von der Route der beiden Seglerinnen befunden haben.

4. Monate auf See - und scheinbar topfit?
Dwersteg habe an der Geschichte der Seglerinnen noch ein anderer Umstand zum Stutzen gebracht. "Wenn ich nur Wochen gesegelt bin, war ich schon ganz schön angestrengt. Und ich hatte dabei keinen Unfall."
Sowohl Appel als auch Fuiava hätten sich lediglich mit Haferflocken, Reis und Nudeln über Wasser gehalten. Auch ihre beiden Hunde, die mit dabei waren, hätten sich später davon ernährt. Eine Frage, die auch die Küstenwache (laut "BBC") beschäftigt: Warum waren die Hunde, trotz der mangelhaften Ernährung, in so guter gesundheitlicher Verfassung? Die Seglerinnen hingegen haben bei ihrer Rettung nicht den Eindruck gemacht, auf ihrer Odyssee schwere körperliche Blessuren davon getragen zu haben. "Von den seelischen Belastungen ganz abzusehen", so Dwersteg.
Zumal er bei der Menge des Proviants misstrauisch ist. Auf Rat eines Seglers hätten Appel und Fuiava genug Proviant für rund sechs Monate gepackt, sagten sie dem britischen "Guardian" - obwohl sie nur 18 Tage für ihren Törn eingeplant hatten. "Im Extremfall nimmt man bei einer solchen Zeit auf See einen Proviant für höchstens vier Wochen mit", sagt Dwersteg.
5. Sind Motor und Mast ernsthaft beschädigt worden?
Nach dem schweren Sturm sei sowohl ihre Maschine - vermutlich ein Diesel-Motor, so Dwersteg - ausgefallen und ihr Mast beschädigt worden, sagen die Seglerinnen. "Der Motor ist ein sehr empfindliches Teil des Schiffes", erklärt Dwersteg, der einen Ausfall nicht für unwahrscheinlich hält. Allerdings wirft die kaputte Maschine eine entscheidende Frage auf, ob Diesel-Motor oder nicht: Wie haben die Seglerinnen Strom produziert?
Wie Appel und Fuiava berichten, hätten sie eine Meerwasserentsalzungsanlage für Trinkwasser an Bord gehabt und diese nach einem Schaden wieder reparieren können. Diese könne aber nur mit Strom versorgt werden, wenn der Motor die Energie dafür produziert, so Dwersteg. Allerdings ist bisher unklar, ob die Seglerinnen auch alternative Energiequellen an Bord gehabt haben - etwa einen Windgenerator oder ähnliches.
Dass der Mast beschädigt wurde, ist ebenfalls fraglich: Ein Video der Rettung der beiden zeigt, dass der Mast des Schiffs noch immer stand. Warum Appel und Fuiava also nicht zumindest ein Segel flicken und am Mast befestigen konnten, ist bislang ebenfalls unklar. Dann hätten sie zumindest ein wenig Fahrt machen können und ihre Überlebenschancen deutlich erhöht.Vielleicht erklärt aber auch ein Ausspruch von Appel Vieles, was auf diesem Segeltörn schiefgegangen ist: "Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse", sagte Appel dem "Guardian". "Als ich Natascha fragte, sagte ich ihr, dass ich keine Ahnung habe, was da drauen passieren wird und sie sagte 'Das ist okay, ich bin noch nie gesegelt'".
"Der Mast sieht unbeschädigt aus, es scheint alles in Takt", sagt Dwersteg - natürlich mit Vorsicht, immerhin habe auch er nur das Video sehen können. Das Segel sei noch angeschlagen (aufgerollt) gewesen, das Großsegel läge ordnungsgemäß auf dem Baum, analysiert Dwersteg. Die Seglerinnen hätten zumindest versuchen können, die Segel zu setzen, vermutet Dwersteg.
Die Geschichte um den Segeltörn von Jennifer Appel und Natasha Fuiava scheint noch nicht auserzählt. Die alles entscheidende Frage lautet natürlich: Wenn sich die Ungereimheiten in der Survival-Story tatsächlich bewahrheiten, was hat die Seglerinnen zu diesem Manöver bewegt? Wie Appel dem "Guardian" sagte, könnte sie sich vorstellen, ihr Schiff wieder flottzumachen. Und wieder in See zu stechen. Aufmerksamkeit wird ihr dabei - so oder so - gewiss sein.
Mitarbeit: Tim Schulze und Thomas Krause