Sie sind enorm viele, sie sind überall - und doch ist bis jetzt nur wenig über sie bekannt: Sogenannte Neutrinos, elektrisch neutrale Elementarteilchen, durchströmen das Weltall mit nahezu Lichtgeschwindigkeit. Zu sehen sind die Teilchen dabei nicht, und auch Spuren hinterlassen die mysteriösen Bewohner des Alls nur selten: Neutrinos reagieren kaum mit Materie. Anders gesagt: Sie verhalten sich recht höflich und rammen andere Teilchen fast nie. Ganz ohne dass wir es merken durchqueren Billiarden Neutrinos in einer Sekunde unseren Körper.
Dennoch weiß man seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts, dass es diese Teilchen gibt. Da gelang zum ersten Mal ihr Nachweis in einem Kernreaktor. Doch schon zuvor hatten Physiker ihre Existenz postuliert. Denn beim Zerfall radioaktiver Elemente war etwas passiert, was so nicht vorkommen durfte: Ein Neutron hatte sich dabei zwar wie vorhergesehen in ein Proton und ein Elektron verwandelt - doch dabei ging Energie verloren. Ein unbekanntes, sehr kleines Teilchen musste am Zerfall beteiligt sein.
Dieses Teilchen erhielt schließlich den Namen Neutrino. Es fügte sich ins Standardmodell der Teilchenphysik und durfte diesem zufolge keine Masse haben. Davon jedenfalls waren Forscher ein halbes Jahrhundert lang überzeugt. Doch in den vergangenen Jahrzehnten ist es ihnen gelungen, dem Geisterteilchen etliche Geheimnisse zu entlocken - und zu den aufsehenerregendsten zählt wohl, dass Neutrinos, anders als lange gedacht, Masse haben. Eine Entdeckung, für die es nun den Nobelpreis gab.
Unsere Sonne ist eine Neutrino-Schleuder
Neutrinos entstehen auf ganz unterschiedliche Weise: Manche existieren bereits seit dem Urknall, andere werden erzeugt, wenn kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre prallt. Auch die Sonne ist eine große Quelle für Neutrinos, aus den Kernreaktionen in ihrem Inneren entstammen die meisten dieser Teilchen, die auf die Erde treffen. Nach den Photonen sind Neutrinos die zweithäufigsten Elementarteilchen im Universum. Drei unterschiedliche Arten von ihnen sind bekannt: Elektronen-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tau-Neutrinos.
Unsere Sonne emittiert Elektronen-Neutrinos. Die Prozesse, die sie zum Leuchten bringen und dafür sorgen, dass Licht auf unserem Planeten ankommt, sind recht gut verstanden. Bereits in den 1960er Jahren konnten Forscher daher errechnen, wie viele Neutrinos die Sonne erschafft - und wie viele davon eigentlich auf der Erde ankommen sollten. Doch als sie in einem Experiment in den Tiefen der Homestake-Goldmine in South Dakota nachzählten, waren sie verblüfft: bis zu zwei Drittel der erwarteten Neutrinos waren verschwunden.
Wo waren all die Teilchen hin?
Hatte man die Vorgänge in der Sonne falsch verstanden? Oder war auf dem Weg von der Sonne zur Erde mit den Neutrinos etwas passiert? Dem Japaner Takaaki Kajita und dem Kanadier Arthur McDonald gelang es schließlich in unterschiedlichen Experimenten, das rätselhafte Verhalten der Neutrinos zu entschlüsseln.
Für die Jagd nach den kleinsten Teilchen haben Wissenschaftler unterirdisch riesige Anlagen errichtet. Abgeschirmt von äußeren Störeinflüssen wie der kosmischen Strahlung suchen sie nach den seltenen Zusammenstößen, mit denen sich Neutrinos indirekt nachweisen lassen.
Kajita und sein Team forschten am Detektor Super-Kamiokande, einem riesigen Tank in Japan, nordwestliche von Tokio. Er befindet sich 1000 Meter tief unter der Erdoberfläche und ist mit 50.000 Tonnen reinstem Wasser gefüllt. 11.000 Lichtdetektoren sind an den Wänden des Tanks angebracht, mit denen sich selbst äußerst schwache Lichtblitze aufzeichnen lassen. Sie entstehen, wenn ein Neutrino auf einen Atomkern oder ein Elektron trifft - und bei dem Zusammenprall ein geladenes Teilchen entsteht und entwischt. An der Form und der Intensität des Lichtes lässt sich ablesen, welches Neutrino es verursacht hat.
Auch Neutrinos wechseln mal ihr Gewand
Mit dem Super-Kamiokande lassen sich Myon- und Elektronen-Neutrinos nachweisen, Tau-Neutrinos erkennt er nicht. Tatsächlich erfassten die Forscher diese beiden Neutrino-Typen - und zwar solche, die direkt aus der Atmosphäre oberhalb des Detektors stammten und solche, die quer durch die Erde von unten in den Detektor strömten. Eigentlich, so die Annahme, sollten aus beiden Richtungen von den jeweiligen Neutrino-Arten gleich viele ankommen. Doch tatsächlich waren die Myon-Neutrinos von oberhalb des Detektors zahlreicher als jene, die einen längeren Weg durch die Erdkugel hatten zurücklegen müssen. Hatte ein Teil dieser Neutrinos also Zeit, ihre Identität zu wechseln? Waren Sie zu Tau-Neutrinos geworden und dadurch nicht mehr nachweisbar?
Die Vermutung, dass Neutrinos ihr Gewand wechseln können - Physiker sprechen von Oszillation - ließ sich allerdings erst mit einem weiteren Experiment bestätigen. Am kanadischen Sudbury-Neutrino-Observatorium (SNO) stellten Forscher um McDonald den Neutrinos ebenfalls eine Falle - doch diesmal war das Wasser im Tank tief unter der Erde so behandelt, dass sich sowohl die Elektronen-Neutrinos alleine, wie alle drei Neutrino-Arten zusammen, nachweisen ließen. Das Ergebnis: die Elektronen-Neutrinos, die von der Sonne ankamen, waren zahlenmäßig weniger als erwartet, doch alle drei Neutrinotypen zusammen entsprachen genau den Vorhersagen. Der Beweis war damit erbracht: Einige Elektronen-Neutrinos hatten ihr Kleidchen auf der 150 Millionen Kilometer langen Reise von der Sonne zur Erde gewechselt. Sie waren also nicht verschwunden, sie hatten sich lediglich verwandelt.
Doch damit eine solche Verwandlung möglich ist, müssen die Geisterteilchen eine Masse haben. "Wenn Neutrinos keine Masse hätten, könnte man die drei verschiedenen Neutrino-Arten gar nicht voneinander unterscheiden", sagt Teilchenphysiker Achim Stahl von der Rheinisch-Westfälische Technischen Hochschule Aachen (RWTH). "Würde sich ein masseloses Teilchen in ein anderes umwandeln, wäre keine Veränderung festzustellen.“ Anders gesagt: Ohne Masse würden Neutrinos ihr Gewand nicht wechseln.
Risse im Standardmodell
Auch am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) wird zu Neutrinos geforscht. Die Freude über den Nobelpreis für die Kollegen ist dort groß. Physiker Guido Drexlin hat bereits eine Mail an Kajita abgeschickt, um ihm zu der Auszeichnung zu gratulieren. "Vollkommen verdient", so der Astroteilchenphysiker, der Kajita und McDonald auch persönlich kennt. Die beiden seien nicht nur ausgezeichnete Wissenschaftler, sondern auch herausragende Persönlichkeiten, sagt er. Auf sehr besondere Weise würden sie ihre experimentellen Resultate vermitteln und ihre Mitarbeiter motivieren.
Als Kajita vor zwei Jahren vor Drexlins Studenten am KIT einen Vortrag hielt, habe er sie regelrecht in seinen Bann gezogen. Im Juni erlebte Drexlin Kajita auf einem Wissenschaftskongress in Takayama. "Das war fantastisch", so der Physiker. Während normalerweise höflich geklatscht würde, nachdem Wissenschaftler ihre Ergebnisse präsentiert haben, habe das Publikum bei Kajita getobt und gut zwei Minuten lang mit den Füßen gestampft. Es sei wie ein Rockkonzert gewesen.
Drexlin selbst forscht seit Jahren an Neutrinos. Seine Erkenntnisse fußen auf denen von Kajita und McDonald. Woraus besteht das Universum? Das ist eine der großen Fragen, die auch den Karlsruher Wissenschaftler beschäftigt. Das uns bekannte All ist nur ein geringer Teil, ein Großteil besteht wohl aus einem Stoff, der bis jetzt noch viele Rätsel aufwirft: der sogenannten Dunklen Materie. Woraus sie sich zusammensetzt, ist unklar. Neutrinos könnten hier ebenfalls eine Schlüsselrolle spielen, vermutet Drexlin.
Die Entdeckungen der Wissenschaftler werfen also viele weitere Fragen auf, etwa darüber, wie unser Universum aufgebaut ist. "Es ist deutlich, dass das Standard Modell nicht ausreicht um zu erklären, wie die fundamentalen Bestandteile des Universums funktionieren", schreibt das Nobelpreiskomitee. Und auch die Geheimnisse der Geisterteilchen sind noch längst nicht alle entschlüsselt. Welche Masse haben Neutrinos genau? Warum sind sie - verglichen mit anderen Teilchen - solche Leichtgewichte? Und gibt es noch mehr als die bis jetzt bekannten drei Arten? Wer das beantworten kann, dürfte in Zukunft ebenfalls ein heißer Nobelpreiskandidat sein.