Kopfwelten Schwindende Verlässlichkeit, wachsender Verdruss

Aufgekündigte Bündnisse, unfeine Rücktritte, populistisches Taktieren: Politiker muten ihren Wählern nicht erst seit dem zerbrochenen schwarz-grünen Bündnis in Hamburg viel zu. Doch der Verlust der Sicherheit hat Folgen.

Es ist schon erstaunlich, für wie belastbar die politische Führungsschar ihr Wählervolk offenbar hält. Am Wochenende zerbrach in Hamburg die schwarz-grüne Koalition nach nur zweieinhalbjähriger Regierungszeit. Augenscheinlich litt die Stimmung im Senat dramatisch, nachdem sich Bürgermeister Ole von Beust mitten in der Legislaturperiode für ein ruhigeres, privates Leben anstelle der täglichen Mühen im Rathaus entschieden hatte. Zuvor hatte sich schon Roland Koch unerwartet aus dem Amt verabschiedet, um in Zukunft nicht mehr die hessische Landesregierung, sondern einen Baukonzern zu führen. Wer will es dem Mann verübeln, dass ihn üppig verdienende Ex-Regierende wie Gerhard Schröder oder Joschka Fischer vielleicht auch über seine eigenen Möglichkeiten nachdenken ließen? Doch was macht das mit uns, dem Wahlvolk?

Wie alle anderen Lebewesen auch, sind Menschen existenziell darauf angewiesen, die Zukunft vorhersagen zu können. Dabei geht es nicht um eine weitere alberne Castingshow, sondern um jede Sekunde unseres Lebens. Um gut durch den Alltag zu kommen, müssen wir so genau wie möglich wissen, was uns im nächsten Augenblick erwartet. Und noch besser ist es, wenn wir auch noch ein paar Augenblicke danach überblicken können. Je weiter unser zeitlicher Horizont reicht, desto sicherer dürfen wir uns fühlen und desto wahrscheinlicher werden wir zu unserem eigenen Vorteil für die Zukunft planen können.

Frank Ochmann

Der Physiker und Theologe verbindet als stern-Redakteur natur- und geistes­wissenschaftliche Interessen und befasst sich besonders mit Fragen der Psychologie und Hirnforschung. Mehr auf seiner Homepage.

Menschen sind oft unberechenbar

Nun gibt es viele Dinge in unserer Umgebung, die sich für unsere Verhältnisse nie oder nur sehr langsam ändern. Weil zum Beispiel die Naturgesetze gestern, heute und wohl auch noch morgen unverändert gelten, werden wir auch beim nächsten Schritt auf der Straße oder in unserem Wohnzimmer eine Kraft spüren, die uns Richtung Erdmittelpunkt zieht. Und wenn wir Zucker in unseren Kaffee geben, wird er ebenso süß schmecken, wie das schon gestern und am Tag davor der Fall war und sehr wahrscheinlich auch morgen sein wird. Zumindest die unbelebte Natur ist überaus verlässlich, auch wenn sich mancher vor Tornados, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen fürchtet. Zweifellos sind solche Ereignisse fürchterlich, auf der anderen Seite aber - zumindest bei uns - so selten, dass wir sie nicht in unsere Alltagsentscheidungen einbeziehen müssen. Es sei denn, wir leiden unter einer entsprechenden Phobie oder Paranoia.

Die Unberechenbarkeit dessen, was auf uns zukommen wird, wächst in dem Maße, in dem wir die tote Materie verlassen und andere Lebewesen ins Spiel kommen. Menschen vor allem sind oft unberechenbar. Darum gilt auch in unserem sozialen Umgang, dass uns solche Zeitgenossen besonders angenehm sind, auf die wir uns verlassen können. Wenn wir wissen, was einer tun wird, wächst der Grad unserer gefühlten Sicherheit. Selbst dann, wenn uns unser Gegenüber Übles will. Durchschauen wir solche Absichten, können wir uns zumindest darauf einstellen.

Unsichere Kantonisten

Weil für uns die Vorhersagbarkeit unserer Zukunft so wichtig ist, schätzen wir bei anderen alles, was Stabilität verheißt: Treue natürlich und Pflichtgefühl. Und aus dem gleichen Grund hassen wir alles, was Unsicherheit und damit vielleicht auch Gefahr mit sich bringt wie Verrat, Lügen und Opportunismus. Untersuchungen haben gezeigt, dass wir zumindest unbewusst sogar solche Verräter ablehnen, deren Tat uns selbst zugute kommt oder deren Vorgehen schlimmeres Übel verhindert. Denn wie sollen wir uns auf die Loyalität solcher Menschen verlassen können, wenn sie offenbar nur unter bestimmten Bedingungen loyal sind?

All das trifft ohne Einschränkung auch auf Politiker oder Wirtschaftsvertreter zu, die sich durch ihr Verhalten als unsichere Kantonisten erweisen oder gar offen Versprechen und Vertrauen brechen, weil ihnen das selbst zum Vorteil gereicht. Das ist aber nicht nur menschlich enttäuschend. Unser gesamtes soziales System nimmt schweren Schaden, wenn Treue nichts mehr gilt. Und wer sich auf niemanden mehr verlassen zu können scheint, fühlt sich auch buchstäblich verlassen und wird sich darum Verhältnisse suchen, in denen Vertrauen - und damit eine vorhersagbare Entwicklung - wieder möglich ist.

"Klare Kante" gefordert

Zu theoretisch? Hier sind ganz praktische politische Folgen: Dass die Wähler vor denen davonlaufen, denen sie nicht mehr trauen können oder wollen, beobachten wir schon länger. Vierzig Prozent der Stimmen auf eine Partei zu vereinen, gilt inzwischen bundesweit als Sensationserfolg. Es lässt sich spätestens nach dem unerwarteten Aufstieg der "Linken" noch etwas anderes ausmachen: eine wieder zunehmende Ideologisierung. Denn auch der Pragmatismus, wie ihn Angela Merkel pflegt, schafft Unsicherheit. Darum nehmen die Stimmen zu, die "klare Kante" fordern, wie das der frühere SPD-Chef Franz Müntefering gern formulierte.

Allerdings bekommt keine Ideologie von vornherein den Vorzug. Und keine scheidet von vornherein aus. Ob sie von den Wählern als tauglich empfunden wird, hängt allein davon ab, wie viel Stabilität und Verlässlichkeit sie verspricht. Und diese Aussicht ist keine, die uns beruhigen sollte.

Literatur:

  • Graham, J. et al. 2008: Ideology and Intuition in Moral Education. European Journal of Developmental Science 2, 269-286
  • Jost, J. T. 2008: The End of the End of Ideology. American Psychologist 61, 651-670
  • Jost, J. T. et al. 2009: Political Ideology: Its Structure, Functions, and Elective Affinities. Annual Review of Psychology 60, 307-337
  • Maslow, A. H. 1943: A Theory of Human Motivation. Psychological Review 50, 370-396
  • Poulin-Dubois, D. & Chow, V. 2009: The Effect of a Looker's Past Reliability on Infants' Reasoning About Beliefs. Developmental Psychology 45, 1576-1582

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