Viele hätten abgetrieben. Nelly konnte nicht. Abtreibung, sagt die junge Frau aus Westfalen, wäre Mord an meinen Kindern gewesen. Im August vergangenen Jahres kamen ihre siamesischen Zwillinge Lea und Tabea zur Welt. Die nächsten Monate werden Nelly und ihr Mann Peter mit den Kleinen in Baltimore leben - leben müssen. Denn dort, an der Ostküste der USA, arbeitet der Mann, dem sie zutrauen, ihre Kinder zu trennen: der Neurochirurg Benjamin Carson vom Johns Hopkins Hospital. Der stern hat die Familie nach Amerika begleitet
VIP-Flug über den Atlantik
Mit vier voll gestopften Koffern und neun Einmachgläsern mit pürierter Suppe für die Babys geht es im Lufthansa-Jet von Frankfurt nach Washington. Über dem Atlantik werden die noch zahnlosen Zwillinge mit Gemüsebrei aus Silberfolienschälchen gefüttert, zum Nachtisch bekommen sie Joghurt und süße Brötchenkrümel. Lea und Tabea sind sichtlich zufrieden mit dem Service und ihrem Zimmer zehntausend Meter über der Erde. Protestgeschrei gibt es nur, als die Maschine holpernd auf dem Flughafen der US-Hauptstadt aufsetzt.
Den ersten Tag in ihrem neuen Zuhause im eine Autostunde entfernten Baltimore verschlafen die zehn Monate alten Mädchen seelenruhig. Die Eltern beneiden die Kinder, denn sie selbst fühlen sich einsam und fremd - in einer Welt, deren Sprache sie bis auf ein paar Worte nicht verstehen. Sie reden miteinander, sie beten.
Die ersten Untersuchungen
Das neue Spielzeug in ihrem Bett gefällt den Zwillingen: grüne Beatmungsbeutel aus Latex und durchsichtige Plastikschläuche. Das fühlt sich anders an als Stoffbilderbücher und Holzrasseln. Lea und Tabea sind so fasziniert von den Narkoseutensilien, dass sie das Piepsen der Überwachungsmonitore im Aufwachraum des Johns Hopkins Hospital und die Infusionsleitungen nicht weiter stören.
Sie murren auch nicht, als Schwester Cathy mit Schmetterlings-T-Shirt und voluminösem 70er-Jahre-Brillengestell die intravenösen Zugänge zieht und bunte Kinderpflaster mit Löwen und Zebras auf die Einstichstellen klebt. Nelly und Peter sind erleichtert, dass ihre Töchter die ersten Untersuchungen so gut überstanden haben. "So stark, wie die sind, das ist schon super", sagt Nelly, als sie nach acht Stunden endlich zu den beiden darf. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie die Narkose gut wegstecken. Das war nach den Untersuchungen im Januar in Bielefeld anders. Da haben sie nach dem Aufwachen stundenlang gewinselt wie junge Hündchen."
Aber die 26-Jährige ist sich auch darüber im Klaren, dass es bei der nächsten Zwischenstation auf dem Weg zur großen Trennungsoperation, der Hauterweiterung, schwieriger werden wird. Für alle. Da bleiben Fluchtgedanken nicht aus. "Ich überlege schon manchmal für kurze Augenblicke, einfach mit Peter und den Kindern, so wie sie sind, wieder ins Flugzeug zu steigen und nach Hause zu fliegen", sagt die Mutter. "Obwohl ich glaube, dass wir den richtigen Weg für unsere Töchter eingeschlagen haben."
Endlich Alltag
Sie spielen mit ihren Kindern, kochen, kaufen ein - nach wochenlangem Stress ist endlich mal beinahe ganz normaler Alltag eingekehrt. Wenn die Mädchen schlafen, lesen Nelly und Peter in den Büchern, die sie sich aus Deutschland mitgebracht haben: "Warum ich heute noch glaube" von Philip Yancey und Elisabeth Elliots "100 Ermutigungen". Oder Nelly blättert in Koch- und Backzeitschriften.
Mit ihrem Ford Explorer und den schlafenden Kindern auf dem Rücksitz erkunden sie die Stadt, in der der Dichter Edgar Allan Poe lange gelebt hat. Sie fahren am Inner Harbor mit seinen Cafés und dem National Aquarium entlang und am Baseballstadion der Orioles. Anschluss an die anderen Familien im Children's House findet das Ehepaar nicht. Und sucht ihn auch nicht. "Weil wir ihre Sprache nicht sprechen", wie Peter bedauert.
Expander für die Kopfhaut
Ihre kleinen, sonst so hübschen Gesichter sind verquollen. Die Schnitte, die die plastischen Chirurgen in die Kopfhaut gemacht haben, um die Expander für die Hauterweiterung darunterschieben zu können, sind zwar mit weißem Pflaster zugeklebt. Doch die kleinen Köpfe von Lea und Tabea sehen trotzdem ziemlich ramponiert aus. Nelly und Peter bemerken das alles nicht. Sie sind glücklich, am frühen Mittwochnachmittag wieder bei ihren Kindern sein zu dürfen, im Aufwachraum im 7. Stock des Johns Hopkins Hospital.
In den ersten Minuten sind die Mädchen noch zu schwach zum Weinen. Dann beginnt das Wimmern und Schluchzen. Und immer wieder schreien sie laut auf. Stundenlang dauert das, nur mit kurzen Unterbrechungen. Liebevoll streicheln Nelly und Peter ihre Töchter, halten sie fest, summen leise Kinderlieder. Auch noch in der Nacht auf der Kinderstation ein Stockwerk tiefer. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Kinder seelisch und körperlich so angegriffen sein würden nach diesem Eingriff", sagt Nelly leise. "Die beiden haben nicht nur Schmerzen. Sie haben Angst, sie sind in Panik. Das schockt. Es tut weh, die beiden so zu sehen."
An die große Trennungsoperation im September will die 26-Jährige in diesem Augenblick lieber nicht denken. Aber sie glaubt auch, dass es keinen anderen Weg für Lea und Tabea gibt.