Am Dienstag wurde der Kachowka-Staudamm im von Russland besetzten Teil der Ukraine zerstört. Wassermassen drängen seitdem aus dem Stausee und überfluten das umliegende Gebiet. Russland und die Ukraine geben sich gegenseitig die Schuld, beide Seiten sprechen von einem "Terroranschlag" und einer beispiellosen Katastrophe für die Umwelt. Unabhängig überprüfen lassen sich die Anschuldigungen zu diesem Zeitpunkt nicht. Was man jedoch schon weiß: Der Vorfall hat weitreichende Folgen für die Region – und darüber hinaus.
Der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal hat Russland einen "Ökozid" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vorgeworfen. Russland habe "eine der schlimmsten Umweltkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte ausgelöst", sagte Schmyhal am Mittwoch per Videoschalte aus der Ukraine bei einem Ministertreffen der OECD in Paris. In Dutzenden Dörfern und Städten seien Probleme mit der Trinkwasserversorgung und bei der Bewässerung der Felder zu befürchten, sagte er. "Dies bedroht die globale Ernährungssicherheit."
Das ukrainische Agrarministerium rechnet ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet, werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilte das Ministerium am Dienstagabend auf seiner Webseite mit.
"In den überfluteten Gebieten ist das Getreide für dieses Jahr verloren", sagt Joachim Müller, Leiter des Fachgebiets Agrartechnik in den Tropen und Subtropen an der Uni Hohenheim dem stern. "Die Gerste wäre Ende Juni geerntet worden, der Weizen im Juli. Selbst, wenn die Pflanzen die Überschwemmung überstehen, sind die Böden zu nass, um sie mit Maschinen abzuernten."
Agrar-Experte fürchtet Schadstoffe im Wasser
Für problematischer hält der Agrar-Experte Öl und andere für Mensch und Umwelt gefährliche Schadstoffe, die mit dem Wasser aus dem Stausee nun in die Natur und auf die Felder gelangen.
Das größte Problem sieht Müller allerdings im Trockenfallen des Nord-Krim-Kanals, der für die Bewässerung großer Anbauflächen eine große Rolle spielt. "Die diesjährige Ernte steht in wenigen Wochen an und kann dort vermutlich ohne größere Einbußen eingebracht werden", sagte Müller. Eine Getreideernte mit normalen Erträgen ist seiner Einschätzung im kommenden Jahr aber nur möglich, wenn der Kanal rechtzeitig wieder genug Wasser führt. Wie groß die Ernteeinbußen ausfallen könnten, vermag er noch nicht einzuschätzen. "Belastbare Aussagen sind nur nach genauerer Analyse möglich, unter Kenntnis von Erntezeitpunkt, Bewässerungsplan, Anbaufläche und anderer Faktoren", sagt Müller.
Überflutungen vernichten angepflanztes Getreide
Die Welternährungsorganisation (WFP) warnt sogar vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit. "Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende auf der ganzen Welt, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist", sagte der Leiter des Berliner WFP-Büros Martin Frick der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch. Frick betonte: "Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel befinden sich nach wie vor auf einem Zehnjahreshoch." Die Zerstörung des Staudamms dürfe keine weiteren Preisexplosionen nach sich ziehen. "Noch mehr Leid können wir uns nicht leisten."
Zerstörung am Dnipro: "Die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten"
UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths hat vor den Folgen der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms für die Menschen im Land gewarnt. "Die heutige Nachricht bedeutet, dass sich die Notlage der Menschen in der Ukraine noch verschlimmern wird", sagte Griffiths am Dienstag (Ortszeit) auf einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates.
"Weitreichende Folgen für Menschen in der Ukraine"
Die Teilzerstörung werde "schwerwiegende und weitreichende Folgen für tausende Menschen auf beiden Seiten der Front in der Südukraine durch den Verlust von Häusern, Lebensmitteln, sauberem Wasser und Lebensgrundlagen haben", fuhr der UN-Nothilfekoordinator fort. Sie sei zudem ein "massiver Schlag" für die Nahrungsmittelproduktion in der Region und berge erhebliche Risiken, dass Minen und Sprengstoffe durch das Wasser in Gebiete gelangten, die vorher als sicher galten. Sie sei zudem ein "massiver Schlag" für die Nahrungsmittelproduktion in der Region und berge erhebliche Risiken, dass Minen und Sprengstoffe durch das Wasser in Gebiete gelangten, die vorher als sicher galten.