Insgesamt 21.000 Tote, mehr als 72.000 Verletzte alleine in der Türkei und viele Tausend zerstörte Gebäude: Das ist die bittere Bilanz vier Tage nach dem Erdbeben, das am frühen Montagmorgen den Süden der Türkei und den Norden Syriens erschütterte. So tragisch diese Katastrophe ist, sie kommt nicht überraschend, denn die Türkei ist immer wieder von schweren Beben betroffen. Bei einem der folgenschwersten der vergangenen Jahre starben im Oktober 2020 in Izmir mehr als 100 Menschen. Und im Jahr 1999 forderten Erschütterungen der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit mehr als 17.000 Todesopfer. Auch für die größte türkische Stadt Istanbul erwarten Experten möglicherweise in naher Zukunft ein starkes Beben. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt also faktisch in ständiger Erdbebengefahr.
Türkei verschiebt sich nach Westen
Der Grund für diese Bedrohung liegt im Aufbau der Erdkruste. Sie ist nämlich keine feste Einheit, sondern besteht aus vielen Einzelteilen unterschiedlichster Größe, den tektonischen Platten. So gibt es sieben große Kontinentalplatten und etwa 50 kleinere Erdplatten. Wie viele es genau sind, ist in der Wissenschaft umstritten. Das entscheidende ist, dass diese einzelnen Puzzleteile der Erdkruste sich bewegen. Sie "schwimmen" quasi auf dem äußeren Teil des Erdmantels.
Dort, wo die tektonischen Platten zusammenstoßen, taucht entweder die eine unter der anderen ab oder sie werden gegeneinander geschoben und verdichten sich. Die Türkei befindet sich genau im Spannungsfeld solcher tektonischer Verwerfungen. Sie liegt zum größten Teil auf einem gesonderten Mikroplattensystem, dem Anatolischen Block. Dieser wird von der Arabischen Platte im Osten Richtung Norden gedrückt, wo er gegen die gewaltige Eurasische Kontinentalplatte stößt. Der Anatolische Block weicht deshalb Richtung Westen aus, schrammt an der Eurasischen Platte entlang und kollidiert im Westen mit der Ägäischen Platte (weshalb auch in Griechenland immer wieder die Erde bebt). Entlang dieser Anatolischen Verwerfungszonen kommt es immer wieder zu starken Erdstößen.
Auch die größte türkische Stadt, Istanbul im Nordwesten des Landes, liegt an einer dieser Zonen. Geowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler befürchten, dass den mehr als 15 Millionen Einwohnern der wirtschaftlichen und kulturellen Metropole am Marmarameer ebenfalls ein schweres Erdbeben droht. Das letzte ereignete sich vor fast 260 Jahren, am 22. Mai 1766. Schon damals forderten Erdstöße mit einer Stärke von ungefähr 7,1 bis 7,5 und ein anschließender Tsunami in der noch wesentlich dünner besiedelten Stadt tausende Todesopfer. Das nächste Beben könnte den Expertinnen und Experten zufolge ebenfalls eine Magnitude von bis zu 7,4 erreichen.
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Die düstere Prognose der Forschenden stützt sich auf die Ergebnisse von Messungen am Grund des Marmarameeres. Mithilfe eines neuartigen Messsystems hatte das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Frankreich und der Türkei im Jahr 2019 erstmals direkt am Meeresboden in 800 Metern Tiefe eine erhebliche tektonische Spannung unter dem Marmarameer nachgewiesen. "Sie würde reichen, um erneut ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen", teilte der Geophysiker Dietrich Lange damals mit. Er ist der Erstautor der Studie, die im Juli 2019 im Fachmagazin "Nature Communications" erschien.
"Unsere Messungen zeigen, dass die Verwerfungszone im Marmarameer verhakt ist und sich deswegen tektonische Spannungen aufbauen", erklärte Lange. "Wenn sich die angestaute Spannung während eines Erdbebens löst, würde sich die Verwerfungszone auf einen Schlag um mehr als vier Meter bewegen. Nach Angaben von Geomar hätte ein solches Ereignis für das nahegelegene Istanbul "sehr wahrscheinlich ähnlich weitreichende Folgen wie das Erdbeben 1999 für Izmit mit über 17.000 Opfern".
Einen Haken haben die Untersuchungsergebnisse von Geomar – so wie alle Vorhersagen zu möglichen Erdbeben. Die Forschenden kennen zwar die gefährdeten Regionen sehr genau und können mithilfe von Computersimulationen auch die Gefahr gut einschätzen, doch wann ein großes Beben kommt, wissen sie nicht. Auch Professor Heidrun Kopp, Mitautorin der Geomar-Studie zu Istanbul räumt ein: "Wir sind nicht in der Lage, den Zeitpunkt zu prognostizieren."
Quellen: Geomar Helmholtz-Zentrum, RA Online, Deutsche Welle, Das Erdbeben