"Anne Will" "Moralische Verwahrlosung" und "einfach borniert": Melnyk und Welzer zoffen sich beim TV-Talk

Von Jan Zier
Gäste bei Anne Will
Auch diesmal sprach Anne Will mit ihren Gästen über die Ukraine
© Screenshot ARD Mediathek
Zwischen "Anmaßung", "Auslöschung" und "moralischer Verwahrlosung": Anne Will debattiert mit Briefeschreibern über schwere Waffen für die Ukraine. Die Debatte eskaliert vor allem verbal.

Schleswig-Holstein ist auch bei Anne Will eher am Rande des eigenen Universums angesiedelt, weswegen das Land auch nach einer Landtagswahl mit Erdrutschsiegen und -niederlagen keine eigene Sendung bekommen hat. Es ist ja aber auch Krieg in der Ukraine, und am heutigen Montag wird in Russland der Sieg über Nazi-Deutschland gefeiert. Außerdem schreiben und unterschreiben in diesen Tagen viele Menschen hierzulande offene Briefe. Und dann ist da noch Bundeskanzler Olaf Scholz, der zum Tag der Befreiung von der NS-Herrschaft eine salbungsvolle Rede an die Nation gehalten hat. Reden wir also einmal mehr über Krieg und Frieden: "Mehr Waffen für die Ukraine – ist das der Weg zum Frieden?"

"Anne Will": Wer hat diskutiert?

Kevin Kühnert (SPD), Generalsekretär

Britta Haßelmann (Bündnis 90/ Die Grünen), Fraktionsvorsitzende

Ruprecht Polenz (CDU), Präsident Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V.

Andrij Jaroslawowytsch Melnyk, Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland

Harald Welzer, Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist

Wie lief die Diskussion?

Freundlicherweise hat man bei Anne Will die intelligenteren und ernstzunehmenderen unter den derzeitigen Briefautor:innen eingeladen. Also den Soziologen Harald Welzer statt Martin Walser oder gar Alice Schwarzer als Stimme derer, die nun keine schweren Waffen an die Ukraine liefern wollen. Und den klugen CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz statt des Alt-Grünen Ralf Fücks als Stimme derer, die eben dafür sind, die Kriegsfähigkeit Putins "maximal schwächen" wollen und auf die Logik der Abschreckung setzen. "Es geht darum, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen darf", sagt Polenz, denn der wolle die Ukraine "auslöschen". Und da ist sie schon, die Eskalation: Denn dann kommt der ebenso polemische wie gerade omnipräsente Ukraine-Diplomat Andrij Melnyk und verlangt "Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um uns zu helfen". Ja, Deutschland soll "alles unternehmen". Das wiederum will hier niemand, und Scholz schon gar nicht. Und nun?  

Doch Harald Welzer, der die Stimme des Mahners einnehmen will, überzeugt erst einmal nicht: "Ein Krieg gegen eine Atommacht kann nicht im herkömmlichen Sinne gewonnen werden", behauptet er. Und muss sich von Polenz vorhalten lassen: "Das ist empirisch falsch". Der muss ja nur auf Vietnam oder Afghanistan verweisen.

Welzer befürchtet "eine Eskalation der Gewalt" und "eine Situation, die völlig außer Kontrolle gerät". Eine, in der immer mehr und immer größere Waffen gefordert und auch geliefert werden. Permanente Aufrüstung habe kein logisches Ende und führe unweigerlich in den "dauerhaften Krieg", glaubt er. Welzer verlangt, "viel intensiver nach Verhandlungslösungen zu suchen". Er will Wege finden, um über einen Kompromiss zu reden.

Nur, Wladimir Putin will ja gerade gar nicht ernsthaft reden. Und diesem Einwand hat dann auch Welzer nicht viel Konkretes entgegenzusetzen. Also: Wie jene Verhandlungslösungen derzeit konkret aussehen sollen, bleibt schleierhaft. "Es gibt nicht nur eine Lösung", sagt er. Aber welche? Das sagt er nicht. Die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann findet Welzers Idee eines Kompromisses sogar "anmaßend": "Was soll das für ein Kompromiss sein"?, fragt sie entgeistert und es ist eine ihrer bemerkenswerteren Einlassungen an diesem Abend. Ein Kompromiss, den man mit einem Aggressor wie Putin eingehe? Hm. Unklar ist aber auch, was letzten Endes aus dieser Kompromisslosigkeit folgt. Polenz fürchtet ja, dass die Suche nach solchen Verhandlungslösungen erst recht für Eskalation sorgt, weil sie Putin ermutigen könnte, auch anderswo sein Reich zu arrondieren und Nachbarstaaten anzugreifen. "Nicht Russland, sondern Putins Herrschaft ist bedroht", sagt der CDU-Politiker – nämlich durch voranschreitende Demokratie.    

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 "Das Schweigen der Waffen allein bringt keinen Frieden", sagt unterdessen Kevin Kühnert, der die undankbare Aufgabe hat, Scholz’ Rede, die in der Runde allgemein als etwas nichtssagend empfunden wird, als fundiert zu loben, seinen Kanzler zu erklären und zu vermitteln. Da ist Melnyks Welt doch viel einfacher: "Jeden Tag sterben in der Ukraine Menschen", erklärt er – und weiß auch, warum: "Das ist Ihre Verantwortung", sagt der Diplomat, und meint all jene, die so argumentieren wie Harald Welzer.    

Der besondere Moment

Als Melnyk in seiner poltrigen Art Harald Welzer als "moralisch verwahrlost" abkanzelt, als einen, der "in seinem Professorenzimmer sitzt und philosophiert" (und sogar Frau Will interveniert an diesem Punkt) hebt der Soziologe zur Strafe zu einer langen Vorlesung an, in der er über die Kriegserfahrungen der Deutschen im Allgemeinen und Besonderen dozieren will. "Ich bin nicht Ihr Student", sagt Melyk darauf nur, ohne eine Ende abzuwarten. "Das ist einfach borniert", schimpft Welzer, mit einer abfälligen Handbewegung.          

Die Erkenntnisse

Laut einer repräsentativen Umfrage sind 45 Prozent der Deutschen für, aber 55 Prozent gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.

Fazit

Das Dilemma ist klar, doch neue Einsichten bringt dieser Abend nicht. Dafür aber eskaliert die Debatte vor allem verbal.