"Ich kann sie nicht erreichen", schreibt mir ein Freund, den ich aufgewühlt kontaktiere, um zu fragen, ob er weiß, wie es unserer gemeinsamen Bekannten geht. Dann noch: "In Ronis Dorf gab es viele Tote. Unbestätigten Berichten zufolge."
Das Dorf, das ist die kleine Gemeinde Netiv Haasara im Süden Israels, 400 Meter Luftlinie entfernt von der palästinensischen Stadt Beit Lahia im Gazastreifen. Dazwischen verläuft eine Sperranlage aus Zäunen, Wachposten, Sensoren und Pufferzonen. Militante Palästinenser haben diese Sperranlage gestern überwunden und 15 Menschen erschossen, allein in Netiv Haasara.
Später atmen wir auf: Roni Keidar, 80 Jahre alt, ist am Leben und in Sicherheit.
Am Epizentrum des Nahost-Konflikts kämpft Roni Keidar um Frieden
Von Netiv Haasara ist aus der Ferne der Muezzin zu hören, der die Gläubigen von Gaza zum Gebet ruft. Roni kennt die Melodie gut. Seit mehr als 40 Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Netiv Haasara. Die drei Kinder, ihre Enkel, alle sind sie hier. Und alle glauben: Oma ist verrückt. Oder naiv. Weil sie tut, was sie tut. Eine Zivilistin, die seit Jahrzehnten unermüdlich für Frieden kämpft. Hier, am Epizentrum des Nahost-Konflikts.
Ich erreiche Roni via Whatsapp-Anruf. "Kannst du mich hören?", fragt sie ständig. Immer wieder bricht die Verbindung ab. Nach wenigen Minuten beendet sie das Gespräch, sie müsse in den Schutzraum. Sie schießen wieder. Seit bald zwei Jahrzehnten schießt die Hamas regelmäßig Raketen auf Ronis Zuhause.
Ich kenne Roni seit vielen Jahren. Früher leitete ich politische Bildungsreisen in Israel und Palästina. Oft empfing sie unsere Gruppen in ihrem hellen, gemütlichen Haus mit den vielen Kunstwerken, die ihr Mann Ovadia gemalt hatte. Sie servierte Kaffee und erzählte aus ihrem Leben.
Zuletzt gesehen habe ich sie vor einem Jahr. Zusammen fuhren wir mit meiner Touristengruppe zur Grenze mit Gaza. Auf die hässliche Betonmauer, die sie markiert, hatte jemand ein buntes Graffito in dicken hebräischen Buchstaben gesprüht: "Netiv leSchalom, Weg zum Frieden."
Ununterbrochen Schüsse und keine Verbindung zur Außenwelt
Gestern, erzählt sie mir in unserem kurzen Telefonat, hat der Raketenalarm sie morgens um Viertel vor sieben Uhr aufgeweckt. Sie bemerkte das leere Bett ihres Mannes und erschrak. Er machte draußen einen Spaziergang und begab sich auf den Rückweg, weil er auf die Toilette musste. Vielleicht rettete ihm das sein Leben. In dem Moment, als die Sirene zu heulen begann, betrat er gerade das Haus. Zusammen liefen sie zum Schutzraum. Der Strom fiel aus, sie verloren jede Verbindung zur Außenwelt. Draußen fielen ununterbrochen Schüsse.
Krieg im Nahen Osten: Tote und Trauer in Israel und Gaza

Endlich erreichte Roni ihre Tochter, die in der Nähe wohnt. "Sie ging ans Telefon und flüsterte: Mama, in unserem Haus sind Terroristen. Wir verstecken uns." Bewaffnete Palästinenser waren in ihr Zuhause marschiert. Die Bewohner von Netiv Haasara schließen ihre Haustüren nicht ab. Alle kennen sich, man vertraut sich. Mit den zwei Kindern versteckte sie sich im Schrank unter der Treppe. Nach einer Weile erlösten israelische Soldaten die Familie.
Jetzt sind die drei Kinder von Roni in Tel Aviv und in Sicherheit. Ihr Mann ist 82. Er fühlte sich nach dem Erlebten zu schwach, um nach Tel Aviv zu fahren, obwohl die Stadt nur eine Stunde Autofahrt entfernt liegt. Sie sind fürs Erste bei Freunden untergekommen, wo die Lage ein wenig ruhiger ist. Morgen, sagte sie. Sie muss die Kinder und Enkel sehen.
Sehen Sie im Video: Kämpfe im Süden Israels gehen in der Nacht weiter.

"Viele sagen, ich sei eine Träumerin. Aber das bin ich nicht"
Menschen wie Roni habe ich in meinem Leben nur selten getroffen. Sie fährt Krebspatienten aus Gaza in israelische Krankenhäuser, kämpft um Ausreisegenehmigungen für ihre palästinensischen Freunde, schickt ihnen Geld und Pakete. Jedes Mal, wenn Israel den Gazastreifen mit Raketen beschießt, schreibt sie ihnen Nachrichten: "Are you ok?" Auch heute tut sie das. "Ich weiß, dass sie auch unter Beschuss stehen."
"Viele sagen, ich sei eine Träumerin. Aber das bin ich nicht", sagte sie uns an jenem Tag vor einem Jahr. Wer denkt, dieser Konflikt von zwei Gruppen um das gleiche Land lasse sich mit Gewalt lösen, der träumt. Wer glaubt, die Besatzung lasse sich verwalten – der ist ein Träumer. Ich mit meinem Glauben an Frieden, ich bin die Realistin."
Als junge Frau wanderte sie aus Großbritannien nach Israel ein. In den 1970er Jahren bauten sie und ihr Mann sich eine Existenz auf der Sinai-Halbinsel auf, die Israel nach dem Sechstagekrieg erobert hatte. Er betrieb Landwirtschaft.
Als Israel 1978 einen Friedensvertrag mit Ägypten unterschrieb, mussten sie den Sinai verlassen – um des Friedens willen, an den damals so viele Menschen glaubten, waren sie bereit, ihr Zuhause aufzugeben. Zusammen mit anderen Familien gründeten sie 1982 ein verschlafenes Dörfchen, gelegen in grüner Naturidylle, direkt an der Grenze zu Gaza. Damals fuhr man noch regelmäßig über die Grenze zum Einkaufen. Die Beziehungen zu den palästinensischen Nachbarn waren gut.
Heute am Telefon ringt Roni um Worte, spricht mechanisch wie jemand, der selbst kaum an die eigenen Worte glaubt. "Du weißt, wo ich politisch stehe. Ich versuche immer zu verstehen, warum etwas passiert." Was bewegt Menschen dazu, so etwas zu tun?, hatte Roni meine Touristengruppen immer gefragt und Empathie für die Gegenseite gezeigt.
"Ich bin verwirrt. Heute ist es schwierig, irgendetwas zu verstehen." Sie wisse nur: das muss aufhören, könne so nicht weitergehen.
Ich denke: Wenn Roni aufgibt, wer bleibt dann?