Es ist der Knackpunkt bei den Brexit-Verhandlungen: Was passiert nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU mit der Grenze zu Irland? Seit mehr als drei Jahren brüten Großbritannien und die Europäische Union über dem Dilemma, ohne sich einig zu werden. Diese Woche versuchen sie es erneut – unter massivem Zeitdruck vor dem EU-Gipfel nächste Woche und dem angekündigten Brexit-Termin am 31. Oktober.
Aber warum ist die irische Grenzfrage so ein großer Stolperstein? Ein Überblick.
Wo liegt das Problem?
Mit dem Brexit entsteht auf der irischen Insel eine rund 500 Kilometer lange EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ist die Trennlinie quasi unsichtbar, denn die Friedenslösung für die damalige Unruheregion Nordirland setzte auf wirtschaftliches Zusammenwachsen beider Teile der Insel. Diese soll nun nicht wieder durch Schlagbäume geteilt werden.
Doch sieht die EU ein ernstes Problem für ihren Binnenmarkt: Nach dem Brexit könnten in Nordirland bald andere Produktstandards, Zölle und Steuern gelten. Die EU fürchtet an der irischen Grenze eine offene "Hintertür" für Importe, die EU-Regeln unterlaufen. Im Klartext: billige, minderwertige oder unerwünschte Ware, die EU-Herstellern Konkurrenz machen würde. Ein Beispiel wären US-Chlorhühnchen, sollte sie Großbritannien nach dem Brexit zulassen.
Was hat es mit dem sogenannten Backstop auf sich?
Um eine feste Grenze zu vermeiden und den EU-Binnenmarkt dennoch zu schützen, wurde im Austrittsvertrag 2018 eine Stufenlösung vereinbart. Man will das Problem mit einem Abkommen über die künftigen Beziehungen lösen. Bis das steht, gilt aber zunächst eine Notklausel – der sogenannte Backstop. Demnach bleibt ganz Großbritannien in einem Zollgebiet mit der EU. Für Nordirland sollen zudem EU-Binnenmarktregeln gelten.
Warum ist das für Großbritannien ein Problem?
Als Teil einer Zollunion könnte Großbritannien nach dem EU-Austritt bis auf weiteres keine eigenen Handelsabkommen schließen. Darüber hinaus hatte die frühere britische Regierung zugesagt, EU-Standards nicht zu unterbieten. Der jetzige Premierminister Boris Johnson sieht indes eine freie Hand beim Handel und bei Standards als wichtige Vorteile des Brexits. Der Backstop ist für ihn eine dauerhafte Fessel, die er unbedingt loswerden will. Er argumentiert: Das Abkommen mit Backstop ist im britischem Parlament chancenlos, immerhin stimmten die Abgeordneten schon drei Mal dagegen. Ein Abkommen ohne Backstop ist indes der einzige Vorschlag, für den es bislang ein Ja im Unterhaus gab, auch wenn dieser nie wirklich auf dem Tisch lag.
Was will Johnson stattdessen?
Der britische Premier schlug vorige Woche eine Ersatzlösung vor. Demnach sollen in Nordirland vorerst weiter EU-Lebensmittel- und Produktstandards gelten. Damit wäre die EU-Sorge um den Binnenmarkt deutlich entschärft. Doch will Johnson, dass Großbritannien einschließlich Nordirlands die EU-Zollunion verlässt. Damit entstünde eine Zollgrenze, und aus EU-Sicht bedeutet das zwangsläufig Kontrollen. Johnson betont aber, diese könnten entfernt von der Grenze dezentral stattfinden. Zu verzollende Waren könnten dabei per Ortungssystemen auf der irischen Insel verfolgt werden.
Warum will die EU das nicht?
Die EU hat zwei ernste Einwände. Die mit neuer Technik unterstützten und so fast unsichtbaren Kontrollen hält sie bestenfalls für Zukunftsmusik und vorerst nicht für machbar. "Unerprobt" nannte das eine Sprecherin der EU-Kommission am Montag. Darüber hinaus stößt sich die EU an einer Veto-Klausel in Johnsons Paket: Die nordirische Volksvertretung soll einmal zu Beginn und dann alle vier Jahre entscheiden dürfen, ob es bei der Ausrichtung an EU-Standards dort bleiben soll. Die Vertretung - die wegen Dauerstreits der Parteien in Nordirland seit drei Jahren nicht mehr getagt hat - hätte also das Sagen über eine mögliche Befristung der Abmachung. Zudem führt das komplizierte System der Entscheidungsfindung dort faktisch zu einem Vetorecht für die protestantische DUP, deren Ziel eine möglichst enge Anbindung Nordirlands an Großbritannien ist. Die EU stünde womöglich von heute auf morgen genauso dumm da, wie bei einem Brexit ohne Vertrag.
Welche Alternativen wären noch denkbar?
Zwei Ideen werden immer wieder genannt: ein Backstop, bei dem nur Nordirland bis auf weiteres in Zollunion und Binnenmarkt bliebe - und das übrige Großbritannien raus ginge. Das würde London eine eigene Handelspolitik erlauben, trifft aber auf den erbitterten Widerstand der DUP und Teilen der Brexit-Hardliner in Johnsons Konservativer Partei. Der andere Lösungsansatz ist die Befristung des jetzigen, für ganz Großbritannien gedachten Backstops, zum Beispiel auf fünf Jahre. Damit wäre die "Fessel" zumindest nicht dauerhaft. Eine Befristung fand jedoch bisher auf EU-Seite keine Unterstützung.
Wie geht es jetzt in Sachen Brexit weiter?
Auf der Suche nach einer Lösung reist EU-Parlamentspräsident David Sassoli am Dienstag zuerst zu Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Berlin und dann nach London zu Premierminister Boris Johnson. Merkel trifft den Italiener bereits am Vormittag und bespricht sich gegen Mittag auch mit EU-Ratschef Donald Tusk. Am frühen Abend erörtert Sassoli dann mit Johnson den für Ende Oktober geplanten britischen EU-Austritt. In London tagt zudem das britische Unterhaus zum letzten Mal, bevor es einige Tage in Zwangspause geht. Über Johnsons Alternativvorschläge wird ab Dienstagmittag in Brüssel erneut verhandelt. Gespräche am Montag hatten keine erkennbaren Fortschritte gebracht. Ein EU-Vertreter erklärte nur, man habe einige Klarstellungen von britischer Seite bekommen.
Und wenn es keine Einigung gibt?
Gelingt nicht rechtzeitig ein Durchbruch, dürfte die Debatte über einen weiteren Aufschub des Brexits Fahrt gewinnen. Das britische Parlament hatte gegen Johnsons Willen ein Gesetz verabschiedet, das die Regierung in diesem Fall ab dem 19. Oktober zu einem Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist zwingt. Johnson betont allerdings trotzdem, dass er sein Land ohne weitere Verzögerung zum 31. Oktober aus der EU herausführt – auch ohne Austrittsvertrag.
Mit Vertrag würde zunächst bis Ende 2020 eine Übergangsphase gelten, in der sich praktisch nichts ändert. Ohne Abkommen entfiele diese Schonfrist sowie alle Vereinbarungen zur irischen Grenze, zum Schutz der Rechte von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich und zu weiteren finanziellen Leistungen Londons an die EU. Von heute auf morgen müssten Zölle und Kontrollen an den Grenzen zu Großbritannien eingeführt werden, Lieferketten würden unterbrochen und Millionen Bürger in Unsicherheit gestürzt. Die Wirtschaft befürchtet schlimme Folgen für die Konjunktur.