Der britische Premierminister Boris Johnson schickt das Parlament am Montag früher als zunächst angenommen in eine gut fünfwöchige Zwangspause. Eigentlich sollte die drastische Maßnahme dazu dienen, am Unterhaus vorbei einen Brexit bis zum 31. Oktober zu erzwingen - zur Not auch ohne Abkommen mit der Europäischen Union. Zuvor will Johnson das Parlament erneut über Neuwahlen abstimmen lassen, aber es galt als extrem unwahrscheinlich, dass er die dafür nötige Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten bekommt.
An diesem Montag tritt das Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit in Kraft, das vom Parlament am Freitag verabschiedet worden war. Es sieht vor, dass der Regierungschef bei der EU eine Verlängerung der am 31. Oktober auslaufenden Brexit-Frist beantragen muss, sollte bis zum 19. Oktober kein Austrittsabkommen ratifiziert sein.
Johnson lehnt eine Verlängerung jedoch kategorisch ab. Lieber wolle er "tot im Graben" liegen. Über das Gesetz will er sich trotzdem nicht hinwegsetzen. Spekuliert wird, dass die Regierung versuchen wird, anderweitig ein Schlupfloch zu finden.
Aber welches Schlupfloch soll das sein? Diese Szenarien sind möglich:
1. Boris Johnson setzt sich über das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit hinweg
Johnsons Gegner wurden hellhörig, als der Premierminister in den vergangenen Tagen andeutete, dass das Gesetz möglicherweise nur "theoretisch" den Brexit verschieben könnte. Es heißt, dass No-Brexit-Gegner bereits eine Klage für so einen Fall vorbereiteten: "Er ist genauso an das Rechtsstaatsprinzip gebunden wie jeder andere in diesem Land", sagte ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic Grieve der BBC. "Wenn er sich nicht daran (an das Gesetz) hält, kann er vor Gericht verklagt werden. Das Gericht würde nötigenfalls eine Verfügung erlassen, die ihn dazu verpflichtet. Hält er sich nicht an die Verfügung, könnte er ins Gefängnis geschickt werden."
Bevor es so weit kommt, könnte Johnson auch einen echten Bauerntrick anwenden: Um das Gesetz zu verhindern, hätte er die Möglichkeit, es der Queen nicht zur Freigabe vorzulegen. Es würde dann vorerst nicht in Kraft treten.
2. Johnson stellt Misstrauensantrag gegen die eigene Regierung
Kein Winkelzug ist unvorstellbar im Brexit-Drama. Boris Johnson könnte auch einen Misstrauensantrag gegen die eigene Regierung stellen, um dadurch Neuwahlen zu erzwingen. Eine Mehrheit haben seine Torys im Parlament nicht mehr, deshalb wäre so ein Antrag hoch riskant. Es wäre zum Ersten nicht sicher, ob die größte Oppositionspartei, die Labour-Party unter ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn, das Spiel mitspielen und dem Antrag zustimmen würde. Zum Zweiten gäbe es nach einen erfolgreichen Misstrauensantrag eine 14-Tage-Frist, in der die Opposition eine eigene Regierung zustande bringen könnte. Die Opposition ist zwar zutiefst zerstritten, aber unter extremen Ausnahmebedingungen wäre vielleicht eine Einigung möglich. Käme es dennoch zu Neuwahlen, müssten zwischen der Auflösung des Parlaments und dem Wahltag 25 Arbeitstage liegen. Johnson wäre als mutmaßlicher Wahlsieger erst wenige Tage vor dem 31. Oktober wieder im Amt und könnte notfalls einen No-Deal-Brexit durchdrücken.
3. Johnson tritt zurück
Boris Johnson hat versprochen, dass Großbritannien am 31. Oktober aus der EU austritt, "komme, was da wolle". Sollte das nicht möglich sein, könnte der Premier zurücktreten, weil er sein Versprechen nicht einlösen konnte. Das ist allerdings ebenfalls ziemlich unwahrscheinlich.

4. EU lehnt Antrag auf Brexit-Verschiebung ab
Jetzt wird es ein wenig kompliziert. Johnson ist aufgrund des gerade vom Parlament verabschiedeten Anti-No-Deal-Brexit-Gesetzes verpflichtet, um eine Verschiebung des Brexits zu bitten (wenn es vorher kein Abkommen gibt). Der Wortlaut des Briefes ist sogar von der Opposition weitgehend festgelegt worden. Aber: Johnson könnte hinten herum (möglicherweise durch einen zweiten Brief) die EU darum bitten, dass sie die Verschiebung ablehnt oder anderen Zeitraum vorschlägt als vorgesehen (drei Monate), was wiederum von der britischen Regierung abgelehnt werden könnte (aber nur mit Zustimmung des Parlaments). Es käme in diesem Fall zu einem harten Ausstieg und Johnson könnte die Schuld der EU in die Schuhe schieben. Genauso könnte Johnson versuchen, ein EU-Mitglied, wie zum Beispiel Ungarn, zu einem Veto zu bewegen. Bekanntermaßen gilt im Europäischen Rat für Beschlüsse die Einstimmigkeit. Aber bislang hat sich die EU in den Brexit-Verhandlungen als einheitlich und geschlossen gezeigt. Auch dieses Szenario ist ziemlich unrealistisch.
5. Brexit-Abkommen in letzter Minute
Niemand rechnet ernsthaft damit, dass es vor dem 31. Oktober zu einem Brexit-Abkommen Großbritanniens mit der EU kommt. Die britische Regierung hat bislang keinerlei neue Vorschläge in Brüssel eingereicht, um das zuletzt ausgehandelte Abkommen aufzuschnüren. Dabei hatte die EU im Fall der bedeutsamen Backstop-Lösung im Frühjahr einen Kompromiss-Vorschlag vorgelegt, der eine Art "kleinen" Backstop für Nordirland vorsah. Demnach sollte nur Nordirland (und nicht ganz Großbritannien, wie aktuell vorgesehen) für eine Übergangszeit in der Zollunion verbleiben, dafür sollte die Grenze zwischen Nordirland und Irland aber offen bleiben. Lediglich in den Häfen Nordirlands und Großbritanniens würden notfalls Grenz- und Zollkontrollen stattfinden. May hatte das abgelehnt, weil sie die Unterstützung der nordirischen DUP brauchte - und die hätten es niemals zugelassen, dass Nordirland allein quasi Mitglied des europäischen Binnenmarktes bleibt. Eine Möglichkeit bleibt dieser Vorschlag weiterhin, aber die Brexit-Hardliner werden sich darauf kaum einlassen.
Quellen: DPA, BBC, "Tagesschau", "Guardian"