Wer immer auch der nächste britische Premierminister werden wird, er oder sie wird einen Höllenjob übernehmen. Er beginnt mit der Unterschrift unter dem EU-Austrittsantrag und geht direkt über in zermürbende Austrittsverhandlungen und mündet in einem Scheidungsdokument, mit dem Großbritannien wenig gewonnen, aber viel verloren haben wird. Dazwischen, daneben und danach muss er oder sie auch noch eben das Vereinigte Königreich retten: Die Schotten kokettieren seit dem Brexit-Votum offen mit dem Austritt aus der Völkerliaison. Tendenz: Raus aus Großbritannien, rein in die EU. Ob die Nordiren London treu bleiben werden, ist auch noch längst nicht ausgemacht und selbst Gibraltar, das britische Zipfelchen im Süden Spaniens, könnte sich vom Mutterland im Norden lösen wollen. Kurzum: Der nächste britische Premierminister begeht sehenden Auges politischen Selbstmord. Boris Johnson hat sich gegen den Suizid entscheiden.
Boris Johnson will nicht in die Downing Street
"Ich bin zu dem Schluss gekommen, diese Person kann ich nicht sein", sagte Johson am Donnerstag, kurz bevor die Bewerbungsfrist für die Nachfolge von David Cameron ablief. Der Mann mit der blonden Nichtfrisur wird also nicht neuer Premierminister, und vermutlich ist das eine kluge Entscheidung - zumindest aus seiner Sicht. Niemand spricht ihm die Fähigkeit ab, die Geschäfte in Downing Street 10 zu führen. Er hat auch den nötigen Ehrgeiz dazu, die Intelligenz, das Charisma und er beherrscht sämtliche Spielchen und Finessen, um sich an der Spitze des Landes zu halten. Deshalb weiß er, dass dies so ziemlich der ungeschickteste Moment ist, nach dem Amt zu greifen, obwohl er es doch so sehr will.
- Zum einen: Viele Briten mögen vielleicht seinen Lausbubencharme, doch seine Unverfrorenheit, mit der er seine Landsleute aus der EU getrieben hat, haben ihn bei den Brexit-Gegnern zu einem der unbeliebtesten Vertreter seiner Kaste gemacht. Seit dem Votum vom 23. Juni traut sich der Ex-Bürgermeister der Hauptstadt kaum noch auf die Straße.
- Dann: Fast alle zentralen Versprechen der Brexit-Bewegung, dessen Gesicht er war, fielen innerhalb weniger Tage in sich zusammen. Johnson steht, nicht zum ersten Mal, als Lügner dar, der um einen Job zu kriegen, die Interessen von Millionen von Menschen geopfert hat.
- Deshalb drängeln sich in seiner eigenen, konservativen Partei nun diejenigen nach vorne, die möglichst wenig nach Brexit riechen - kein guter Zeitpunkt für den forschen Johnson.
Aber der wird kommen und Boris Johnson kann sich zurücklehnen und Bier trinken.
Denn er dürfte Zeuge werden, wie der nächste Regierungschef oder -Chefin den Leuten die kommende Rezession verkaufen wird. Wie er oder sie wird erklären müssen, warum immer noch (und auch in Zukunft) Zuwanderer aus der EU ins Land kommen. Was eigentlich mit dem ganzen Geld passiert, das Großbritannien bislang nach Brüssel überwiesen hat. Wieso das einst stolze Vereinigte Königreich innerhalb kurzer Zeit zu Little Britain schrumpft. Er wird sehen, wie sich seine gesamte Konkurrenz im Streit um richtig oder falsch gegenseitig erledigt (oder erledigt wird). Das dauert natürlich. Zwei Jahre, vielleicht mehr. Doch dann ist der Weg für Boris Johnson frei. Er mag voller Leichen liegen, doch er wird elegant über sie hinwegschreiten und den Briten das erzählen, was sie hören wollen. Wie immer halt. Nur eben nicht jetzt.