Was macht ihr als erstes, wenn Bilder wie die aus Butscha auf euren Schreibtischen landen?
Andreas: Basis einer jeden Verifikation ist die korrekte Zuordnung in einen örtlichen und zeitlichen Kontext, um zu versuchen zu verstehen, was tatsächlich geschehen ist. Insofern besteht die Aufgabe darin, Bilder, Videos und Zeugenberichte konkreten Orten und Situationen zuzuordnen.
Am Fall von Butscha also die Beantwortung von zwei ganz konkreten Fragen. Erstens: Sind die Aufnahmen wirklich in Butscha entstanden und wo genau? Zweitens: Sind die Aufnahmen aktuell oder können wir sie einem anderen Zeitpunkt zuordnen? Also versuchen wir allen Anhaltspunkten in dem Material selbst, aber auch über die Quellen, die solche Inhalte teilen, und anderweitige Hinweise zu denselben Vorfällen nachzugehen, um eine möglichst valide Aussage treffen zu können.
Martin: Dabei nutzen wir unter anderem sogenannte OSINT-Technologien (Open Source Intelligence, Anm. d. Red.), Kartensoftware wie Google Earth oder Yandex Maps. Oft ist es ein Zusammenspiel mehrerer Programme und Herangehensweisen. Es gibt nicht den goldenen Lösungsweg. Manchmal muss man einen Ansatz verwerfen, Kolleg:innen ins Boot holen, die einen frischen Blick auf die Thematik mitbringen. Wir sind da absolut uneitel und unterstützen uns gegenseitig.

Ab wann seid ihr sicher, dass die Bilder echt sind?
Andreas: Das lässt sich pauschal nur schwer beantworten, weil jede Situation für sich genommen einer eigenen Beurteilung bedarf. Ich gebe Informationen zu einem Sachverhalt dann als "authentisch" an unsere Einheiten weiter, wenn mir ausreichend Fakten zur Verfügung stehen, die eine andere Bewertung im Prinzip ausschließen. Am Beispiel Butscha: Ich kann Fotos oder Videos verorten, habe vielleicht verschiedene Perspektiven, kann ausschließen, dass die Fotos alt und aus dem Kontext gerissen sind und auch, dass Manipulationen vorgenommen wurden.
Das Grauen von Butscha: die brutale Realität des Krieges

Martin: Tatsächlich ist der Begriff "echt" in diesem Zusammenhang verwirrend und nicht immer zielführend. Eine Geschichte kann auch falsch oder konstruiert sein, obwohl die genutzten Bilder darin echt sind. Ein Beispiel: Im Zuge der Kriegsverbrechen in Butscha wurden auch Fotos geteilt, die nicht mit der Situation in Butscha im Zusammenhang standen. Es waren Fotos von Kriegsopfern aus dem Ukraine-Krieg, aber aus anderen Städten. Die Fotos waren echt, aber der Kontext stimmte nicht. Genau in solchen Fällen ist eine entsprechende Einordnung extrem wichtig – auch und gerade für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit einer Medienmarke.
Verifizierte Orte des Butscha-Massakers
- getötete Zivilisten am Straßenrand (Video der Ortsdurchfahrt)
→ Ort: Jablonska-Straße, Butscha - Drohnenvideo zeigt gezielte Tötung eines Radfahrers durch Panzerbeschuss
→ Ort: Vokzalna-Straße 8, Ecke Jablonska-Straße, Butscha - "Folterkammer von Butscha", getötete Zivilisten in Keller des Kindersanatoriums entdeckt
→ Ort: Vokzalna-Straße 123, Butscha - Satellitenaufnahmen zeigen Massengrab in Butscha
→ Ort: St. Andreas-Kirche, Butscha
Neue Satellitenbilder zeigen, dass die Leichen schon vor Abzug der Russen auf den Straßen lagen. Könnte man auch ohne diese Aufnahmen jemandem die Taten beweisen?
Andreas: Fakten in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit solch hohem Aufkommen von Propaganda zu sortieren und anschließend einzuordnen ist sehr schwer. Für den Fall von Videoaufnahmen und Fotos als Beweis haben die Plattformen der neuen Medien, seien es soziale Netzwerke oder Messenger, und die Tatsache, dass inzwischen im Prinzip jeder Mensch ein Telefon mit Kamerafunktion hat, hier einiges verändert. Oftmals, das zeigen ja die Open-Source-Recherchen der letzten Jahre, tauchen im Verlauf Filmaufnahmen von bestimmten Situationen später im Netz auf oder werden staatliche Anweisungen durch Leaks oder Hacks publiziert.
Martin: Wir sind davon überzeugt, dass auch zu diesem grauenhaften Verbrechen in den kommenden Wochen immer mehr Details ans Tageslicht kommen. Durch Aufnahmen, Schilderungen von Zeugen, durch unabhängige Untersuchungsberichte, Forensiker und andere Beweise, wie eben auch diese Satellitenfotos.
Wo stößt Verifikation an ihre Grenzen?
Martin: Die Recherche vor Ort ist elementar. Doch auch Reporter:innen und Korrespondent:innen in Kriegsgebieten haben nicht immer uneingeschränkten Zugang zu allen Informationen. Und auch nicht zu jeder Hausecke auf einem Foto gibt es das äquivalente Abbild in einer der vielen digitalen Karten. Wenn wir eine Information nicht verifizieren können, wird diese auch nicht als Fakt dargestellt. Wir halten uns an das Credo "Richtigkeit vor Schnelligkeit".
Andreas: Grundsätzlich ist Verifikation ja nichts, was nur im digitalen Raum geschieht, insofern ist für uns die erste Grenze sicher unser Schreibtisch. Denn die Vorort-Recherche ist nicht durch eine reine Recherche am Computer zu ersetzen. Die Eindrücke, die man vor Ort gewinnt, die Menschen, die man trifft, mit denen man spricht, die einem Details zukommen lassen und die neuen Recherchestränge, die sich dann auftun – die lassen sich digital nicht 1:1 ersetzen.
Der Idealfall ist daher das Tandem und der ständige Austausch zwischen digitaler und Vorort-Recherche. Darüber hinaus gibt es natürlich Grenzen der Informationsgewinnung: zum einen die rechtlichen und ethischen Grenzen einer Recherche. Zum anderen der exklusive Zugang zu Quellen, der beispielsweise bei einem staatlichen Geheimdienst – Beispiel Live-Satellitendaten – deutlich ausgeprägter sein wird, als das bei einem Medienunternehmen der Fall ist.

Ihr müsst euch auch mit grausamen Bildern wie denen aus Butscha auseinandersetzen. Wie verkraftet ihr das?
Martin: Natürlich macht das etwas mit einem. Mir hilft es, mich mit den Kolleg:innen auszutauschen. Manchmal hört man eine Sequenz zunächst ohne Ton. Wir warnen die Kolleg:innen auch stets vor, wenn sensibles Material zu sehen ist. Jeder soll für sich selbst entscheiden können, was er oder sie sich zumuten kann und will. Wir haben im Unternehmen auch die Möglichkeit, uns bei Bedarf psychologischen Rat zu holen, wenn uns die Bilder überwältigen und um solche Vorfälle besser verarbeiten zu können.
Andreas: Der Umgang mit solchem Material ist hoch individuell, das empfinden alle unterschiedlich und da gibt es auch kein "besser" oder "schlechter". Ich persönliche verarbeite Dinge vor allem, in dem ich mich darüber austausche, mit Kolleg:innen, aber auch Freund:innen und Bekannten, damit ich nicht alleine bin mit dem Erlebten. Das hilft mir extrem. Vor kurzer Zeit gab es aber auch ein Beispiel, da wurde es mir zu viel, ein fünfminütiges Video von Gefangenen, die offensichtlich misshandelt wurden. Da habe ich sofort eine Pause eingelegt, bin aufgestanden, habe mich abgelenkt, durchgeatmet und an etwas ganz anderem weiter gearbeitet.

Wichtig ist hier der Mut, auch mal "nein" zu sagen und sich einzugestehen, dass man eben nicht gegen alles resistent ist und sein muss. An der Stelle möchte ich betonen, dass ich wahnsinnig stolz darauf bin, dass wir dieses Thema in unserem Haus sehr ernst nehmen und mit unterschiedlichen Angeboten – täglichem Austausch, Möglichkeit von Gesprächen mit Psychologen, Debriefing, Hotline zur Seelsorge – dafür sorgen, dass niemand mit dem Erlebten allein sein muss.