Folge der Krise Boris Johnson hat nur zwei Optionen: sich ändern oder gehen

Immer mehr MPs wenden sich von Boris Johnson ab
Nachdem sein Brexit-Minister das Kabinett verlassen hat, steht Boris Johnson mächtig unter Druck.
© Leon Neal / AFP
Das Pech verfogt den britischen Premier auf Schritt und Tritt. Nachdem die Feierfreude Johnsons im Lockdown bekannt wurde, ist jetzt auch sein ihm bislang nahe stehender Brexit-Minister David Frost zurückgetreten. Und plötzlich steht Boris Johnson alleine da.

Am Anfang hörte sich irgendwie alles ganz toll an – zumindest gab Großbritanniens Premier Boris Johnson sein Bestes. In seiner ersten Amtsrede als Premierminister im Unterhaus in London 2019 bezeichnete er es als seine Aufgabe, die Briten aus der EU zu führen. Er wolle das Land zum großartigsten der Erde machen. Seine mit Superlativen gespickte Rhetorik erinnert stark an die von Ex-US-Präsident Donald Trump. Die EU beobachtete beide mit Skepsis. Zu Recht, wie sich spätestens jetzt herausstellt.

In seiner Rede hatte Boris Johnson den Briten versprochen, Großbritannien bis 2050 zur erfolgreichsten Wirtschaft Europas zu machen. Bis dahin ist noch viel Zeit – angesichts der dramatischen Herausforderungen, denen das Land derzeit gegenübersteht, wird Johnson aber jede Sekunde nutzen müssen, um das Land aus der Krise zu führen. Der Brexit belastet Wirtschaft und Verbraucher, das britische Leben ist noch teurer geworden. Die Pandemie hat dem Ganzen noch das I-Tüpfelchen aufgesetzt. Versorgungs- und Lieferengpässe haben sich seitdem verschärft. Und trotzdem werden die Auswirkungen des Brexit gravierender sein als die Pandemie, schätzt die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR).

Doch nicht nur wirtschaftlich ist das Land gefordert. Auch politisch hängt das Vereinigte Königreich in einer Pechsträhne. Der Rückhalt des Premiers bröckelt. Der Grund: Während Johnson und einige Parteikollegen den Lockdown auf Partys verbrachten und der Premier mit strengeren Pandemiemaßnahmen liebäugelt, wenden sich die Tory-Abgeordneten langsam von ihm ab.

Brexit-Minister tritt zurück

So etwa David Frost. Der Brexit-Minister hatte am Samstag seinen Rücktritt verkündet. Eigentlich plante Frost sein Amt erst im Januar niederzulegen. Der "Mail on Sunday" zufolge soll Frost seinen Rücktritt bereits vor rund einer Woche eingereicht haben. Johnson habe ihn aber überredet, noch bis Januar in seinem Amt zu bleiben. Nachdem der geplante Rücktritt öffentlich bekannt wurde, verkündete Frost in einem Brief an den Premier, "mit sofortiger Wirkung" zurückzutreten.

"Es ist enttäuschend, dass dieser Plan heute Abend bekannt geworden ist, und unter den Umständen halte ich es für richtig, schriftlich meinen sofortigen Rücktritt zu erklären", zitierte die Nachrichtenagentur PA aus dem Brief. Johnson bedauerte den Schritt und schrieb, Frost solle stolz auf seine historischen Dienste für die Regierung sein.

Frost, auch Mitglied im britischen Oberhaus, gilt als Hardliner gegenüber der Europäischen Union. Er leitete ab Juli 2019 für London die Verhandlungen mit Brüssel über das Brexit-Abkommen und die Umsetzung des umstrittenen Nordirland-Protokolls. Das Protokoll sieht vor, dass Nordirland de facto im europäischen Binnenmarkt und der Zollunion verbleibt, wodurch britische Einfuhren in diesen Landesteil vom Zoll kontrolliert werden müssen. London hatte sich vor allem daran gestört, dass der oberste Gerichtshof der EU in Luxemburg die Deutungshoheit über die Umsetzung des Abkommens hat.

"Der Brexit ist jetzt abgesichert", schrieb Frost in seinem Brief. Allerdings stehe die Regierung weiterhin vor der Herausforderung, die Chancen zu nutzen. Als Grund für seinen Rücktritt nannte Frost daher "Bedenken über die derzeitige Richtung des Weges". Er sei traurig, dass sich die Aufhebung der Covid-Beschränkungen nicht wie versprochen als "unumkehrbar" erwiesen hätten. "Ich hoffe, dass wir bald wieder auf den richtigen Weg kommen." Der Aufbau einer neuen Beziehung zur EU werde eine "langfristige Aufgabe" sein.

Der Premier der Skandale

Dem Bericht der ""Mail on Sunday" zufolge soll der Abschied mit Frust über jüngste politische Entscheidungen der Regierung zusammenhängen. Dazu soll unter anderem die Einführung der besonders umstrittenen 3G-Nachweise (geimpft, genesen oder getestet) für Clubs und Großveranstaltungen gehören. Deshalb hatten letzte Woche fast 100 konservative Abgeordnete Johnson ihre Stimme verweigert. Auch die höheren Ausgaben für den Weg zur Klimaneutralität sowie Steuererhöhungen sollen Frost ein Dorn im Auge sein.

Frosts Rücktritt verschärft die Krise für den von Skandalen umwitterten Regierungschef Boris Johnson. Vergangene Woche hatten seine Tories bei einer Nachwahl im konservativen Kernland North Shropshire eine heftige Niederlage kassiert. Das Ergebnis löste Schockwellen in der Partei aus. Darüber hinaus schlittert das Land in die bisher größte Infektionswelle seit Ausbruch der Corona-Pandemie hinein. Doch für harte Corona-Maßnahmen fehlen dem Premier zunehmend die Unterstützung der eigenen Partei und – angesichts immer neuer Berichte über Lockdown-Verstöße in der Regierung – auch die moralische Autorität.

"Lord Frosts Rücktritt hätte für Johnson zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können", schreibt auch der Fernsehsender ITV auf seiner Webseite. Der konservative Abgeordnete Andrew Bridgen bezeichnete den Rücktritt Frosts im Radiosender der Times als "verheerenden Schlag gegen die Regierung und den Premierminister". Auf Twitter schrieb er: "Dem Premierminister laufen die Zeit und die Freunde davon, um seine Versprechen und die Disziplin der wahren konservativen Regierung zu erfüllen."

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Boris Johnson hätte nur zwei Optionen: sich zu ändern oder zu gehen. In jedem Fall müssten sich die Tories auf ihre konservative Politik besinnen, für die sie gewählt wurden. Und der Premier müsse ernsthaft darüber nachdenken, ob er diese Änderung mittragen wolle oder nicht. Der Rücktritt von David Frost sei ein Wendepunkt. "Es fühlt sich so an, als ob der alte Boris Johnson, den wir aus früheren Jahren kannten und liebten, entführt wurde", sagte Bridgen dem Sender ITV.

Muss Johnson wirklich gehen?

Ähnlich äußerten sich Parteikollegen. In einem Beitrag für den "Sunday Telegraph" betonten Danny Kruger und Miriam Cates, dass sich ihre Partei ändern müsse. "Wir finden uns mit diversen Vorwürfen zu Regelverstößen konfrontiert, während sich das Land selbst in einem Sumpf aus Regeln und Vorschriften befindet, die das soziale und wirtschaftliche Gefüge unserer Nation schädigen. Unsere Unterstützer sind von ersterem verlegen, von letzterem ermüdet und von beidem verärgert." Weitere Tory-Abgeordnete sprachen sich für eine Amtsniederlegung Johnsons aus, sollten noch weitere Fehler unterlaufen und der Premier seinen Kurs nicht ändern.

Darauf angesprochen, antwortet Johnson: "Wir konzentrieren und jetzt darauf, unsere Arbeit zu machen. Das heißt wir stellen sicher, dass wir nicht nur die schnellste Impf- und Boosterkampagne in Europa haben, wie wir es bisher getan haben, sondern dass wir auch in der Lage sind mit der "Get Boosted"-Kampagne die schädlichen Folgen von Omikron abzuwenden." Darauf konzentriere er sich und das sei genau das, was auch die Bevölkerung derzeit wünsche.

Johnsons Rückhalt in den eigenen Reihen begann bereits im Oktober zu bröckeln, als er den ehemaligen Tory-Abgeordneten Owen Paterson vor einer Suspendierung bewahren wollte. Dieser hatte gegen die Lobby-Regeln verstoßen. Die MPs wurden dazu genötigt, Paterson zu unterstützen. Später entschied sich die Regierung doch für die Suspendierung.

Unmut herrschte zudem über vom Premier gebrochene Versprechen unter anderem zum Ausbau der Bahnstrecken im Norden des Landes und die erhöhte Sozialversicherung zur Finanzierung von Sozialreformen. Zuletzt hatte Johnson den Ärger der Partei auf sich gezogen, nachdem bekannt wurde, dass er Partys im Lockdown gefeiert habe. Vergangene Woche votierten 100 MP gegen den von Johnson vorgeschlagenen Corona-Pass. Und auch im Kampf gegen die Omikron-Variante, die Johnson mit strengeren Maßnahmen eindämmen möchte, regt sich bereits Widerstand.

Ob Großbritannien so schnell zur "großartigsten Wirtschaft" Europas wird, ist fraglich. Boris Johnson versucht jedenfalls weiterhin, auf seine Art, sein Bestes zu geben.
 

Quellen: Mit Material von DPA & AFP, Reuters, ITV, "The Telegraph", "Mail on Sunday"