Einmal Shanghai, bitte! Marktwirtschaft "Vom Meister lernen"

Von Tilman Wörtz
Das fernöstliche Prinzip "Vom Meister lernen" kommt im Reich der Mitte besonders zur Geltung. Ob Bronze-Buddhas, Terrakotta-Krieger, Rolex-Uhren oder Weihnachten - die Leidenschaft der Chinesen fürs Kopieren ist legendär.

Tief in seinem Herzen, ganz tief drinnen, war Mao Tsetung ein Marktwirtschaftler. Das kann gar nicht anders gewesen sein, denn seine Landsleute haben alle aus seinem roten Buch gelernt und produzieren heute einen Wachstumsrekord nach dem anderen. Das ist mir bei einem Bummel durch die Duolun Lu klar geworden, einem malerischen Sträßchen in Shanghai, in dem sich ein Kunsthandwerk-Laden an den nächsten reiht.

In der Duolun Lu gibt es einen Devotionalien-Laden, der Mao-Büsten, Anstecknadeln, die Schallplatten-Kollektion "Singen für ein ewiges Leben unseres Vorsitzenden" und zwei Schränke voller "Mao-Bibeln" verkauft (ehemals politisch aktive Studenten in Deutschland, die heute meist in leitender Position arbeiten, werden sich gewiss noch an den ein oder anderen Satz erinnern). Dort stapeln sich chinesische Büchlein, englische Büchlein, französische und japanische, klitzekleine Büchlein mit Bild, kleine Büchlein ohne Bild und die Standardgröße. So eine wollte ich erstehen.

"150 Renminbi", sagt der Verkäufer Wang. Das sind umgerechnet 15 Euro. Kein Vermögen, aber Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, und ich würde sagen, dass für Mao-Bibeln heute ein Käufermarkt besteht. So gesehen sind 150 Renminbi verdammt viel Asche. Außerdem habe ich vor fünfzehn Minuten schon eine andere Ausgabe an einem kleinen Straßenstand für nur 35 Renminbi erstanden. "Und die war nicht so alt und dreckig", sage ich Verkäufer Wang in der Gewissheit, den Preispoker mit einem Joker eröffnet zu haben.

Denn in der Tat, das Exemplar in meinen Händen hat vergilbte Seiten, einen blauen Filzstiftstrich quer über den Umschlag und Dreck in allen Ritzen. Es muss viele Arbeitsstunden Klassenkampf hinter sich haben, schweißtreibende Sitzungen öffentlicher Selbstkritiken, Umerziehung widerspenstiger Intellektueller und jahrelanges Studium durch Bauern in der Erntepause.

"Dreckig ist gut", sagt der Verkäufer, "das andere Buch ist nur eine Kopie." Dieses Argument überrascht mich ein wenig. In Duolon sind 96 Prozent aller Bronzebuddhas, Jadeskulpturen, "berühmten Kaligraphien" und "antiken Vasen" Kopien, aber deshalb nicht weniger teuer. Die Leidenschaft der Chinesen fürs Kopieren ist legendär. Sie kopieren die Terrakotta-Krieger von Xi'an, Rolex-Uhren, die bemannte Raumfahrt, Mercedes und Weihnachten. China-Kenner hat das zu tiefschürfenden Erklärungen inspiriert. Da käme das fernöstliche Prinzip "Vom Meister lernen" zur Geltung: Wichtig sei der Weg, nicht der Ursprung oder das Ziel. Andere sehen den Grund in der Architektur: Chinesische Bauten seien meist aus Holz, verrotteten deshalb schnell und ihr Material müsse immer wieder ersetzt werden, ohne dass deshalb der Bau nicht länger als Original gelte.

Bei meiner Mao-Bibel soll das nun alles nicht mehr gelten. Ich will wissen, warum. Verkäufer Wang muss lachen bei der Frage und klärt mich auf: "Ökonomisches Gesetz! Je älter, desto teurer." Er war mal in Deutschland und hat sich dort alte Uhren angeschaut. Uuuh, waren die alt und dreckig - und deshalb teuer. Und dann hat er alte Schränke gesehen, deren Preis 500 Prozent über dem Preis vergleichbarer Kopien lag. "Die Deutschen kennen sich aus mit der Wirtschaft."

Um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, frage ich, was denn sein Lieblingssatz in dem Buch sei. Er schlägt gleich zu Anfang das Kapitel "Die kommunistische Partei" auf. Darin steht, dass diese die Revolution anführt und sich auf den Marxismus-Leninismus als Grundlage beruft. Ich blättere ein bisschen weiter bis zu dem Satz "Man muss einen Kopf für Zahlen haben". Den hat Verkäufer Wang. Er sagt: "Wir glauben an die Kommunistische Partei".

Ich sage: "100 Renminbi". Aber Verkäufer Wang winkt ab, wiederholt nur: "ökonomisches Gesetz". Ich frage: "marxistische Ökonomie?" Er verneint: "Nicht Marxismus, nur Ökonomie" und zeigt auf das Erscheinungsdatum: "1967", ein Jahr nach Beginn der Kultur-Revolution. Im anderen Exemplar steht kein Datum. "Ich versichere ihnen, dass da Dinge weggelassen wurden." Ob das denn so schlimm sei, frage ich, und ob er mir eine Stelle zeigen könne? "Da müsste man lange studieren, um das zu verstehen." Ich verstehe.

Laufkundschaft hat sich der Verhandlung beigesellt. Zurück kann ich jetzt nicht mehr. Ich muss das Buch kaufen. Außerdem kommen mir tatsächlich Zweifel, ob Wang vielleicht nicht doch Recht hat. Ich meine, das Buch ist ein Original-Zeugnis der Kulturrevolution, bewahrt vor den schönfärberischen Eingriffen eines Restaurators. Wir einigen uns schließlich auf den völlig überhöhten Preis von 120 Renminbi. "Jetzt können Sie zu Hause in Ruhe beide Versionen vergleichen", sagt Wang zufrieden und nutzt die Gelegenheit, mir weitere Waren in seinem Laden anzupreisen: Golfschläger, ein Tablett samt Petroleumlämpchen, beides Utensilien, mit denen in Shanghaier Hotels "vor der Befreiung" Opium aufs Zimmer serviert wurde; Zigarttenschachteln, die Fotos schöner Frauen zieren. "Auch das ist ökonomisches Gesetz! Mit Bildern verkaufen die sich besser." Zum Abschied würde er mir gerne noch eine Frage stellen: Ob ich das Buch tatsächlich studieren will? Ich bejahe. Wang wundert sich: "Das machen heute nicht mehr viele."