Ausländische Delegationen haben ihre Schwierigkeiten, das chinesische Hofzeremoniell zu verstehen. Das war schon immer so. Es wird berichtet, dass der erste Opiumkrieg 1840 vielleicht vermieden worden wäre, hätte der Gesandte seiner Majestät Georgs III., Königs von Großbritannien, ein geschickteres Händchen bei der Wahl der Gastgeschenke gehabt, als er mit dem Himmelssohn einige Jahre zuvor einen Handelsvertrag abschließen wollte. Er schenkte eine Luftpumpe, ein Fernrohr, ein Planetarium, Eisen- und Stahlwaren aus Birmingham. Die Nützlichkeit der Waren vermochte den Himmelssohn nicht zu beeindrucken. Und schön kann man sie ja nicht nennen. Der Handelsvertrag kam nie zu Stande.
Weil die Menschheit aus der Geschichte nicht lernt, tappen auch heute noch Delegationen in die gleichen Fallen des chinesischen Protokolls. So geschehen bei der Chinareise des "Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und Kultur" des Landtags Baden-Württemberg.
China boomt,
da müssen sich Politiker einen Eindruck vor Ort verschaffen, zumal das Schwabenländle ja einiges im Reich der Mitte investiert. Der Reiseplan des Ausschusses war das Drehbuch für eine gescheiterte Mission: Pro Tag waren im Schnitt sechs Besuche von Universitäten, Ministerien und Kultureinrichtungen vorgesehen, plus Mittagessen und Bustransfer.
Nun muss man wissen, dass ein chinesischer Gastgeber - und sei es nur der Vizepräsident einer Provinz-Uni - nicht einfach "Hallo" sagt, wenn eine Delegation angereist kommt. Nein, er bereitet einen Staatsempfang vor wandgroßen Tuschemalereien namens "Lasst hundert Blumen blühen", Serviermädchen eilen umher und gießen Tee nach, während die Delegation in herrschaftlichen Sesseln versinkt. Die Ansprache des Vizepräsidenten unterschreitet nie eine Dreiviertelstunde, auch wenn die Delegation nur fünfzig Minuten Zeit hat. Der genaue Wortlaut all dieser Ansprachen ist folgender: "Wir sind sehr froh, dass sie gekommen sind. Auch der Bürgermeister von XY war schon hier. Wir hoffen, dass sich unsere erfolgreiche Kooperation weiter vertieft. Baden-Württemberg ist ein prosperierendes Land, von dem wir lernen können." Und dann beginnt die Satzschleife von vorne: "Wir sind sehr froh, dass sie gekommen sind..."
Die Parlamentarier aus Baden-Württemberg wurden spätestens nach der dritten Wiederholung nervös. So viel parlieren um den heißen Brei sind selbst sie nicht gewöhnt. Ihnen blieben höchstens zehn Minuten, um zu fragen, worin bisher eigentlich die Kooperation zwischen Baden-Württemberg und der Uni des Vizepräsidenten bestanden habe.
Wegen dieser unerwarteten Dehnung des Zeit-Raum-Kontinuums musste die Gruppe den Campus der Fachhochschule Nanjing bei Dunkelheit besichtigen, der Rundgang der weltberühmten Gärten von Suzhou fiel einem weiteren Begrüßungsgespräch an irgendeiner Uni zum Opfer. Und dabei war der Ausschuss neben Wissenschaft auch zuständig für Kultur.
Es regte sich Widerstand
in der Gruppe. Die Delegationsleiterin erklärte die Eile: Zu Hause solle niemand denken, die Reise sei zum Vergnügen da. Jeder Journalist der lokalen und regionalen Presse würde Lücken im Programm sofort als Verschwendung von Steuergeldern geißeln. Ein statistischer Schnitt an täglich absolvierten Programmpunkten müsse eingehalten werden. Dumm bloß, dass keiner der relevanten Journalisten dabei war. Aber ändern ließ sich das Programm nicht mehr. Das hätte gegen das Protokoll verstoßen.
Wer nimmt unsere Volksvertreter vor so viel selbst auferlegter Qualen in Schutz? Wie viele Landtagsausschüsse hecheln auf gleiche Weise ihr Programm durch, ohne dass jemand von ihrem sinnlosen Leiden erfährt?
Bald überschattete ein weitaus ernsteres Problem den Chinabesuch: Wie sich als Ausschuss zur Frage der Menschenrechte stellen? Ein hochrangiger deutscher Diplomat gab eine salomonische Weisheit mit auf den Weg: "Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wann, was, zu wem gesagt werden kann."
Am nächsten Tag
in Peking. Besuch bei der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Dieser "Akademie" gehören über dreihundert Firmen, zehn davon sind an internationalen Börsen notiert. Ihr Präsident, Professor Lu Yongxiang, ist gleichzeitig "Vizepräsident des ständigen Ausschusses des Volkskongresses", ein wichtiger Mann. Während des Gesprächs stellt ein junger Abgeordneter - die Partei spielt jetzt keine Rolle, es geht um die Sache - also ein junger CDU-Abgeordneter stellt dem Präsidenten der Akademie die Frage, wie wichtig in China das richtige Parteibuch für die Karriere eines Wissenschaftlers ist. Der Präsident weicht gelenk der Frage aus, redet einfach darüber, wie wichtig es für einen Politiker ist, Wissenschaftler zu sein.
Bei der Verabschiedung schüttelt er dem CDU-Mann die Hand und sagt stets lächelnd: "Vielen Dank für ihre Frage. Sie sind noch ein sehr junger Politiker. Sie haben eine große Zukunft vor sich!" Der "junge Politiker mit großer Zukunft" fühlt sich geschmeichelt und packt den "Präsidenten mit richtigem Parteibuch am Unterarm. So viel Vertraulichkeit verscheucht dann doch das Lächeln vom Gesicht des Präsidenten. Der "junge Politiker mit großer Zukunft" sagt: "Vielen Dank!"