Deutschland soll der Europäischen Union im kommenden Jahr den Weg aus ihrer Verfassungskrise zeigen. Vor einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Union in Brüssel kündigte der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel als EU-Ratspräsident an, er werde einen neuen Anlauf unter dem deutschen EU-Vorsitz in der ersten Hälfte 2007 vorschlagen.
Anderthalb Jahre später solle das durch die Ablehnung der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden geschaffene Problem gelöst sein. Dies wäre unter französischem EU-Vorsitz in der zweiten Hälfte 2008. Schüssel und der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker riefen die Niederlande und Frankreich auf, nun ihrerseits Vorschläge zu machen. Die bald 16 Länder, die die Verfassung ratifiziert haben, hätten ihre Arbeit getan, sagte Schüssel.
Ein Jahr nach der Ablehnung Bilanz ziehen
Die Staats- und Regierungschefs wollen auf ihrem am Donnerstagabend beginnenden Gipfeltreffen ein Jahr nach der Ablehnung der Verfassung in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden Bilanz ziehen und zudem über die Zuwanderungspolitik und die Erweiterung beraten. Die Verfassung sollte die EU mit neuen Abstimmungsregeln, einer größeren Beteiligung des Parlaments und einem EU-Außenminister stärken. Sie kann nur in Kraft treten, wenn ihr in allen 25 EU-Staaten Parlamente oder Bevölkerung zustimmen.
Die EU müsse die Schnittmenge zwischen den Ländern finden, die der Verfassung zugestimmt haben und denen, die sie ablehnten, sagte Juncker. Bereits im Gespräch ist, den Namen Verfassung fallen zu lassen, um Ängste vor einem EU-Superstaat auszuräumen. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso sagte der französischen Zeitung "Le Parisien", es sei schwer vorstellbar, dass die Verfassung eines Tages in ihrer jetzigen Form verabschiedet werden könne. Sie sei aber auch nicht tot, weil eine klare Mehrheit der EU-Staaten sie ratifiziert habe.
'Adieu Tristesse' sollte das Motto jetzt sein"
Schüssel ist der Meinung, dass es ein Jahr nach den negativen Referenden Grund zum Optimismus gebe. "'Adieu Tristesse' sollte das Motto jetzt sein", sagte er. Parallel zum neuen Anlauf im Verfassungsprozess müsse sich die EU zudem auf konkrete Ergebnisse konzentrieren, um die Stimmung zu verbessern. "Nach der Reflexionsphase beginnt jetzt die Resultatsphase." In Österreich habe sich die negative Beurteilung der Osterweiterung in der Bevölkerung bereits gewandelt. Er verwies zudem auf die Kompromisse zum EU-Haushalt bis 2013, über die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie und sprach von zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich bei ihrer Ankunft zu einem Treffen der christdemokratischen Partei- und Regierungschefs vor dem eigentlichen EU-Gipfel nicht zu den Aussichten ihrer Präsidentschaft. Sie lobte lediglich den Sieg der Fußballnationalmannschaft gegen Polen am Vorabend.
Juncker warnte allerdings vor zu hohen Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft von Januar bis Juni 2007: "Der deutschen Regierung bleiben trotz aller Talente der Bundeskanzlerin nur drei bis vier Wochen, um in der Sache zu Potte zu kommen." Wenige Wochen vor dem Juni-Gipfel 2007 stehen in Frankreich und den Niederlanden Wahlen an. Den alten Regierungen beider Länder wird in der EU nicht mehr die nötige Flexibilität zugetraut, um einen zweiten Anlauf zu nehmen.
Bereits zuvor plant Merkel im März 2007 einen Sondergipfel in Berlin zum 50-jährigen Bestehen der EU-Verträge. Schüssel stellte sich hinter Vorschläge der EU-Kommission, dann eine Erklärung mit einem Bekenntnis zur EU abzugeben. Er wiederholte abgeschwächt auch seinen Vorschlag für ein EU-weites Referendum über die Verfassung. Allerdings sind nicht in allen Staaten solche Volksentscheide möglich. Denkbar sei auch eine Erklärung im Anhang der Verfassung zum "europäischen Lebensmodell".