Triggerwarnung, der folgende Satz kann auf sensible Männer verstörend wirken: Die aktuelle und vor wenigen Tagen frisch gekürte Miss France hat kurze Haare! Wir atmen kurz durch und denken an den berühmten Dialog des nahezu haarlosen und leider zu früh verstorbenen Komikers Louis de Funès: "Nein! – Doch! – Ohh!"
Dabei könnte man es belassen, denn viel mehr ist zu dem Thema eigentlich nicht zu sagen. Das gilt, zugegeben, fast immer. Aber wir leben in und mit den Sozialen Medien. Es gibt stets viel zu sagen. Zu allem.
Miss France also: Ève Gilles, 20 Jahre alt. Sie stammt aus Dünkirchen, einer Stadt im Norden Frankreichs, die bislang nur wenige Schönheitswettbewerbe gewonnen haben dürfte. Ève Gilles hat braune Augen und ist 171 cm groß. Sie machte einen Abschluss in Mathematik an der Universität von Lille, ihr Berufswunsch ist laut "Paris Match" Statistikerin. Sicher, man könnte jetzt fragen: "Wie bitte geht das denn? Ein Uni-Abschluss mit 20? Was ist da los?" Fragt aber niemand, denn Ève Gilles trägt einen sogenannten "Pixie Cut". Wie einst Jean Seberg. Oder Audrey Hepburn. Oder Uschi Glas. Oder oder oder. Wir wagen an dieser Stelle zu behaupten: Frauen mit kurzen Haaren hat es immer schon gegeben.
Die Frisur muss ein Statement sein!
Aber, und jetzt kommt's: Alle diese Frauen trugen die Frisur zu einer Zeit, in der Frauen noch richtige Frauen waren. Und was eine richtige Frau ist, wurde von Männern entschieden. So galt der Kurzhaarschnitt bei den erwähnten Damen wahlweise als "neckisch", "androgyn" oder "erotisch", schließlich gewährte er freien Blick auf den grazilen weiblichen Nacken. Nun ist es keinesfalls so, dass die Halslinie der neuen Miss France weniger zart und anmutig wäre. Bloß sind wir im Jahr 2023. Einzig Feministinnen, Gender-Aktivistinnen und Petra Pau tragen noch kurze Haare. Wie bitte, stimmt gar nicht? Egal, behaupten kann man das zumindest. Ist ja Meinungsfreiheit und so.
Im Internet zumindest witterte man schnell, worum es bei den Haaren wirklich geht: Ève Gilles' Frisur ist ein Statement. Die neue Miss Frankreich ist woke! Die LGBTQI-Diktatur hat die uralte Bastion der Schönheitswettbewerbe unterwandert! Was kommt als nächstes? Ein Schwarzer im Élysée-Palast? Oder ein Mann, der als Frau gelesen werden will?
Wir übertreiben nur wenig, genau genommen geht es bei der "Debatte" um Miss France dieser Tage auch noch um die Frage, ob sie nicht eigentlich viel zu kleine Brüste hat. (An dieser Stelle soll nicht darauf verwiesen werden, welche Frauen noch kleine Brüste haben, aber auch hier gilt: Das hat es immer schon gegeben.)
Nun ist es aber so, dass man sich in Frankreich ein Debatten-taugliches Thema nicht einfach entgehen lässt. Wie Moses das Rote Meer teilen die Medien die Gesellschaft regelmäßig in zwei Lager und befragen ihre für solche Anlässe herangezüchteten Stichwortgeber: "Was ist Ihre Position? Pro oder contra?"
Das müssen sie so machen: In Frankreich gibt es viel mehr Debatten-Formate als in Deutschland und sie wollen ständig neu befüllt werden. Ob es nun um Zuwanderung geht, um Bettwanzen oder um eine Miss France mit kurzen Haaren – man kann aus allem eine Diskussion über linke und rechte Ideale und Positionen zimmern, die mit polemischen Postings aus dem Internet angereichert werden. Meistens geht es dabei einfach nur um Unterhaltung, so wie man in Deutschland abends Kai Pflaume guckt.
Sie will die Werte starker Frauen verteidigen
Die neue Miss France "sei das absolute Gegenteil einer schönen Frau", heißt es nun also. Sie habe nur gewonnen, weil auch bei dem Schönheitswettbewerb der ganze moderne Quatsch mitgemacht werde. Sätze, zu denen sich in Frankreich auch Politiker äußern: Die Abgeordneten Fabien Roussel und Sandrine Rousseau (beide sind links, beide haben kurze Haare) springen bei ”X" mutig für die neue Miss France und die Rechte aller Frauen in die Bresche: Ève Gilles erlebe die Gewalt einer Gesellschaft, die es nicht akzeptiere, dass Frauen sich in all ihrer Diversität selbst definierten.
Kurze Haare sind bei Frauen also, das immerhin ist neu, inzwischen ein Ausdruck von Mut und Diversität. Davon zumindest scheint die aktuelle Miss France auch selbst überzeugt zu sein. Im Zuge des Wettbewerbs beteuerte sie immer wieder, dass sie ja so ”anders" sei. Sie wolle die Werte starker Frauen verteidigen. Sie sei gegen Body Shaming: "Jede Frau ist anders, wir sind alle einzigartig."
Die einzigartig grazile und bildhübsche Ève Gilles redet durchaus wie eine um absurde Schönheitsideale besorgte Frau, was natürlich begrüßenswert ist, aber auch die Frage aufwirft: Warum macht die Mathematikerin dann bei einem Wettbewerb mit, der Frauen danach beurteilt, wie anmutig sie auf Stöckelschuhen im Bikini eine Treppe runterlaufen können? Sicher, jeder, der das mal ausprobiert hat, weiß: Leicht ist das nicht. Aber feministisch? Eines jedenfalls haben die Miss-Wahl-Juroren erreicht: Dank Èves Gilles wird ihre wunderliche Veranstaltung nun im Zusammenhang mit "wokeness" und "Modernität" diskutiert. Ob das alles reiner Zufall ist? Ob man sich nicht doch ein winziges bisschen freut über diesen "Shitstorm"? "Nein! – Doch! – Ohh!"