Fünf Jahre lang hatten Natia und Soso auf ihr Baby gewartet. Dann endlich, im Frühjahr dieses Jahres, war es so weit: Die 32-Jährige konnte überglücklich verkünden, dass sie schwanger ist. Das halbe Dorf hatte sich damals mitgefreut. Keiner ahnte, dass im Spätsommer Krieg sein würde in Georgien und dass Tkviavi, das kleine Dorf, in dem Natia und Soso lebten, mitten in einer "No-Go-Area" liegen würde, in der ossetische Freischärler für Angst und Schrecken und ethnische "Säuberungen" sorgen. Georgiens Außenministerin Eka Tkeschelaschwili behauptete am Donnerstag vor dem Ständigen Rat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien: "Das Territorium, das in der Sowjetzeit als Südossetien bekannt war, ist komplett von Überresten georgischer Bevölkerung gesäubert worden." In der von Russland eingerichteten Pufferzone an der Grenze zwischen Südossetien und dem georgischen Kernland gehe dieser Prozess weiter.
Als die georgischen Streitkräfte Anfang August begannen, südossetisches Gebiet zu beschießen, brach in Tkviavi Panik aus. Wer konnte, nahm seine Habseligkeiten zusammen und flüchtete vor den Angriffen. Natia hoffte in Gori auf Sicherheit. In der 70.000 Einwohner zählenden georgischen Stadt wollte sie auf das Ende der Kämpfe warten. Viel länger als ein paar Tage würde es sicher nicht dauern.
Mitten in der Hölle
Tausende andere Flüchtlinge glaubten das auch und gerieten mitten in die Hölle. Als in der zweiten Augustwoche auch auf Gori Bomben fielen, spürte Natia das erste Ziehen im Bauch. "Ich betete inständig dafür, am Leben zu bleiben und mein Baby sehen zu können", erzählt sie und erinnert sich mit Schrecken daran, wie sie mitten im Chaos verzweifelt um Hilfe bat und wie sie es schließlich auf abenteuerliche Weise schaffte, in ein Tifliser Geburtshaus zu gelangen. Ihr Glück. Wenig später war ein Großteil der Häuser in Gori zerstört und unzählige Flüchtlinge hatten ihr Leben verloren.
Während Russen und Georgier um den Sieg im Krieg kämpften, kämpfte Natia um ihr Baby. Am 12. August kam Isabella in Tiflis auf die Welt. Drei Wochen zu früh. Im Mutter-Kind-Haus der Hilfsorganisation World Vision in der georgischen Hauptstadt fand die junge Familie nach langem Umherirren schließlich Unterschlupf. Täglich kommen mehr Mütter mit ihren neugeborenen Kindern in das Haus. Marina Menteshashvili, die Leiterin des Projektes, versucht, sie alle unterzubringen. Doch es wird langsam eng und noch ist kein Ende des Zustroms abzusehen, die Zahl der Flüchtlinge steigt. Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR sind es bereits mehr als 160.000. Darunter sind laut Unicef 40.000 Kinder, die dringend Hilfe brauchen. 7.500 von ihnen sind jünger als zwei Jahre.
"Was wird aus uns werden?"
Die meisten Flüchtlinge haben alles verloren, wie Natia und Soso. Ihr Heimatdorf Tkviavi sei komplett niedergebrannt, haben die beiden erfahren. Viel mehr wissen sie nicht. Denn die 26 Kilometer breite Zone an der Grenze zwischen georgischem Kernland und Südossetien ist inzwischen lebensgefährliches Niemandsland geworden. Nach dem Ende der offiziellen Kämpfe droht damit ein neues Flüchtlingsdrama. Internationale Hilfsorganisationen befürchten mehrere Tausend Opfer. "Wir hatten uns so auf unser Baby und unsere Zukunft gefreut", sagt Natia. "Was wird nun aus uns werden, ich habe Angst."
Immer häufiger berichten Georgier, die in den Dörfern nördlich von Gori zuhause waren und nicht flüchten konnten, dass sie in den vergangenen Tagen von ossetischen Freischärlern aus ihren Häusern vertrieben worden seien. Auch Flüchtlinge, die Anfang August ins georgische Kernland geflohen waren und nun hofften, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, haben offenbar grausame Erfahrungen mit den Banden gemacht. Doch nicht nur das. Nach Informationen der EU-Kommission haben Soldaten der international nicht anerkannten südossetischen Regierung offenbar überwiegend von Georgiern bewohnte Dörfer aufgesucht und sie aufgefordert, die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen oder Südossetien so schnell wie möglich zu verlassen, sagte ein Kommissionsexperte in Brüssel. Zuvor hatte bereits der französische Außenminister Bernard Kouchner erklärt, es gebe Hinweise auf Vertreibungen in Südossetien.
Offenbar herrscht blanke Anarchie
Belege für all diese Behauptungen gibt es bislang nicht. Melita Sunjic vom UNHCR hat in dieser Woche vergeblich versucht, mit einem Team in das Gebiet zu gelangen, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. "Die russischen Soldaten an den Check Points haben uns gewarnt, in die Region zu gehen. Es sei zu gefährlich. Offenbar herrscht dort die blanke Anarchie." Auch Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes erklärten, sie hätten seit einer Woche keinen Zugang mehr zur roten Zone.
In einem eiligst vom UNHCR eingerichteten Flüchtlingscamp auf einem Fußballplatz bei Gori hat Melita Sunjic von den Vertriebenen dutzende Geschichten von ethnisch begründeten Übergriffen aus den verschiedenen Dörfern gehört. Ihre einzige Informationsquelle. "Die Menschen berichten von marodierenden Horden, die schießend und plündernd durch die Gegend um Khvermo Nikozi, Megvrekesi, Ergneti und Kitsnisi ziehen, das Vieh der Einwohner stehlen, die Häuser zerstören und die georgischen Bewohner verprügeln." Hilfe bekämen die meist hochbetagten oder schwachen und kranken Opfer bestenfalls von den russischen Truppen, die gegen die Freischärler vorgingen, wenn sie Zeuge der brutalen Übergriffe würden. Ob die Berichte tatsächlich stimmen oder ob es sich nur um Gerüchte handelt, müsse in jedem Einzelfall neu bewertet werden. Allerdings spreche die Summe der Geschichten und die steigende Zahl der Flüchtlinge dafür, dass sie in vielen Fällen stimmen, meint Melita Sunjic.
Registrierung am Fuß des Stalindenkmals
Allein in den vergangenen zwei Tagen haben sich 1200 Vertriebene am Fuße des Stalindenkmals in Gori registrieren lassen. Im UNHCR-Flüchtlingscamp sind derzeit rund 900 Vertriebene untergebracht. Auch hier werden es stündlich mehr. Unter ihnen ist auch Tsiala aus Ergneti. Die 75-Jährige hatte es in letzter Minute geschafft, vor den Freischärlern zu fliehen. Eine Nacht lang versteckte sie sich auf einem Feld. Jetzt reiht sie sich geduldig in die Schlange der rund 200 Bedürftigen ein, die auf Goris Hauptplatz vom UNHCR als Binnenvertriebene registriert werden.
Wann und ob sie jemals in ihr Dorf zurückkehren kann, weiß keiner. In der nächsten Zeit wird sie sich mit all den anderen Heimatlosen einen Platz in den 100 Familienzelten des UNHCR-Camps teilen müssen.