Im Persischen wird über Leute gesagt, die nichts mehr zu verlieren haben: Es gibt nichts Dunkleres als Schwarz. Genau in dieser Lage sehen sich die bis zu 25 Jahre alten jungen Iraner, die fast die Hälfte der 67 Millionen Einwohner des Landes ausmachen. Ihre düsteren Perspektiven haben jetzt genau zu der politischen Erschütterung geführt, vor der das Reformlager in der Islamischen Republik Iran immer wieder gewarnt hat.
Fast jeden Abend lautstarke Proteste
"Die Krise verschärft sich tagtäglich und die Leute verlieren das Vertrauen. Eines Tages wird es Chaos geben", hatte der führende Reformpolitiker und Vize-Sprecher des Parlaments, Mohammed-Resa Chatami, lange vor Ausbruch der jüngsten Unruhen prophezeit. Die seit einer Woche andauernden Proteste haben die Voraussagen des Bruders von Präsident Mohammed Chatami bestätigt. Fast jeden Abend gibt es in Teheran und anderen Städten des Landes lautstarke Proteste gegen die konservative islamische Führung.
Die meisten Demonstranten sind junge Leute, deren Hoffnungen nach der Wahl von Präsident Chatami 1997 tief enttäuscht wurden. Chatami schaffte es nicht, sein Versprechen von einer islamischen Demokratie einzulösen. In den vergangenen Jahren skandierte die Jugend noch "Chatami, Chatami, wir lieben und unterstützen dich!" Jetzt ruft sie: "Chatami, Chatami, tritt zurück!" Die Forderungen gehen inzwischen an das Grundsätzliche. Demonstranten verlangen eine Volksabstimmung über das in der Verfassung verankerte islamische System des Landes und haben dabei die Trennung von Politik und Religion im Auge.
Forderungen nach versprochenen Freiheiten
Während die Studenten, die nur eine der protestierenden Gruppen sind, vor allem das Versagen Chatamis im Kampf gegen die othodoxen Geistlichen kritisieren, will die Mehrheit der Jugendlichen bloß die versprochenen sozialen Freiheiten. "Wir müssen uns die Ursachen der Unruhen anschauen und nicht wieder alles vereinfachen", fordert der reformistische Abgeordnete Gholam-Ali Abadi. Er spielt damit auf Standard-Erklärung der Regierung an, die die Demonstranten als Randalierer, US-Agenten oder Feinde der Revolution verunglimpft. "Wir müssen das Problem beim Namen nennen, Freiheit. Solange die nicht geschaffen wird, werden die sozialen Wunden nicht heilen", fügt der Parlamentarier hinzu.
Die Studenten wenden sich vor allem gegen die Inhaftierung von Dissidenten und die Unterdrückung der Pressefreiheit durch die konservative Justiz. Ihre weniger intellektuellen Altersgenossen kämpfen für schlichtere Anliegen. Junge Mädchen werden festgenommen, weil sie gegen die strengen Kleidervorschriften verstoßen, die lange, den Körper verhüllende Gewänder und Schleier vorschreiben. Auch junge Männer riskieren beim Tragen westlicher Kleidung und Frisuren die Festnahme.
Peitschenhiebe der Sittenpolizei
Kontakte zwischen unverheirateten Frauen und Männern, selbst wenn es sich nur um eine private gemeinsame Feier handelt, können böse Folgen haben und auf einer Wache der Sittenpolizei mit saftigen Geldstrafen oder gar Peitschenhieben enden. Bedrückender aber ist die schlechte Wirtschaftslage. Ausbildungsplätze sind rar und Jobs noch mehr, die hohe Inflation frisst Ersparnisse schnell auf. Auch Studenten schlagen sich nach dem Studium häufig mit kleinen Teilzeitjobs durch oder bleiben arbeitslos. Wer einen guten Abschluss hat, wandert nach Möglichkeit in den Westen aus.
Die außenpolitischen Probleme des Landes wie Vorwürfe, den Terrorismus zu unterstützen, den Friedensprozess im Nahen Osten zu behindern oder ein geheimes Atomprogramm zu betreiben, interessieren die Jugendlichen nicht. Sie haben ihre eigenen Probleme. Die offizielle Nachrichtenagentur IRNA zitierte einen der einflussreichsten Geistlichen des Landes, Ajatollah Makarem Schirasi, mit der pessimistischen Analyse: "Die gegenwärtige Phase ist die schwierigste in der Geschichte des Islam."