ISAF-Einsatz in Kundus Blutiger Luftangriff gibt Rätsel auf

Mehr als 50 Tote nach einem von der Bundeswehr angeforderten Nato-Luftangriff. Der Einsatz lässt Fragen offen: Wie viele Zivilisten sind unter den Opfern? Und warum wurden die Tanklaster bombardiert?

Die Taliban errichten einen Checkpoint, wie sie es trotz der Bundeswehr-Präsenz in der nordafghanischen Provinz Kundus immer öfter machen. Sie stoppen zwei Tanklastzüge und bringen sie in ihre Gewalt, später köpfen sie zwei der Fahrer. Die Aufständischen verfrachten ihre Beute in den Unruhedistrikt Char Darah. Die Bundeswehr fordert einen Luftangriff bei der Internationalen Schutztruppe Isaf an. Bei dem Bombardement explodieren die Tanklaster, mehr als 50 Menschen sterben. Es ist der bislang blutigste Luftangriff im deutschen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan - wo die Soldaten inzwischen in die schwersten Gefechte seit Bestehen der Bundeswehr verwickelt sind.

Bis zum Bombardement ist der Ablauf der Geschehnisse unstrittig. Die Kernfrage aber ist unbeantwortet: Starben ausschließlich Aufständische oder kamen auch Zivilisten in der Flammenhölle ums Leben? Der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Christian Dienst, sagt, dass die Opfer "fast alle gegnerische Kräfte, zumindest Beteiligte waren". Dienst argumentiert: "Sie können davon ausgehen, dass der Angriff angeordnet wurde, weil keine unbeteiligten Zivilpersonen durch den Angriff hätten zu Schaden kommen können." Nach dieser Argumentation dürften in Afghanistan nie Zivilisten bei Luftangriffen sterben. Die Realität sieht anders aus.

Der Präsident bedauert nicht, wenn Taliban getötet werden

Nadschibullah, der Angehörige eines Opfers aus dem betroffenen Dorf Hadschi Amanullah, berichtet: "Mehr als 150 Menschen wurden getötet oder verletzt. In der Gegend waren auch Taliban, aber mehr Opfer gibt es unter Zivilisten." Der afghanische Präsident Hamid Karsai macht zwar keine Angaben zu zivilen Opfern, teilt aber mit, er bedauere das Bombardement - Bedauern äußert der Präsident normalerweise nicht, wenn Taliban getötet werden. Zivile Opfer, so sagt der Präsident, seien "unter keinen Umständen akzeptabel".

Auch die Isaf, die den Luftangriff flog, äußert sich deutlich vorsichtiger als das Bundesverteidigungsministerium. "Die Isaf bedauert jeden unnötigen Verlust von Menschenleben und ist zutiefst besorgt über das Leid, das diese Aktion unseren afghanischen Freunden bereitet haben könnte." Der Polizeichef von Kundus, Abdul Rasak Jakubi, spricht von "einer Anzahl Zivilisten", die getötet oder verletzt worden sei.

Warum mussten so viele Menschen sterben?

Völlig offen ist bislang auch, warum so viele Menschen bei dem Angriff sterben mussten. Ein Taliban-Sprecher sagte, die Dorf-Bewohner seien zu den Tanklastern gegangen, um sich Benzin abzuzapfen. Zwar wollen die Gotteskrieger nach eigenen Angaben vor möglichen Luftangriffen gewarnt haben, doch die Leute seien unbeirrt an den Fahrzeugen geblieben. Ein Bewohner des Örtchens Hadschi Amanullah, aus dem regelmäßig Raketen auf die ausländischen Truppen abgefeuert werden, behaupten dagegen, sie hätten lediglich schauen wollen, was vor ihrer Tür passiere und seien deswegen in unmittelbarer Nähe des Angriffs gewesen.

Die Dorfältesten wollen sich beschweren

Laut dem Ortsansässigen Nadschibullah, planen die Dorfältesten nun, nach der Beerdigung der Opfer nach Kundus-Stadt zu reisen und sich dort über den Angriff zu beschweren. Klarheit über den Vorfall wird, wenn überhaupt - erst die von der Isaf angekündigte Untersuchung des Vorfalls bringen. Ein Team von Ermittlern unter der Leitung eines Admirals der Nato-geführten Schutztruppe sei bereits an den Ort des Geschehens geschickt worden, sagte Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen.

Es wird auch die Frage geklärt werden müssen, warum der als besonnen geltende Bundeswehr-Offizier Verstärkung aus der Luft angefordert hat, um zwei gekaperte Tanklaster unschädlich zu machen. Der seit dem Sommer zuständige Nato-Oberkommandierende in Afghanistan, Stanley McChrystal, sagte laut der "New York Times" jüngst in einem Interview, dass es für Luftangriffe strikte Vorgaben gebe, um unnötige Opfer unter den Zivilisten zu verhindern. Üblicherweise sei Luftverstärkung nur dann erlaubt, wenn die Gefahr bestehe, dass die Koalitionstruppen vom Gegner "überrannt" werden könnten.

Taliban haben ihre Drohung wahr gemacht

Gewiss ist aber schon jetzt, dass die Taliban ihre Drohung wahr gemacht haben: Sie haben den radikal-islamischen Aufstand in den Norden getragen. Besonders das einst sichere Kundus ist betroffen, wo die Entwicklung immer mehr an die südafghanische Unruheprovinz Kandahar erinnert. Vor der Präsidentschaftswahl vor gut zwei Wochen sagte ein Anführer der Taliban in Kundus namens Maulawi Kari Baschir dem US-Magazin "Newsweek": "Die Deutschen sollten besser mehr Särge schicken, um ihre toten Söhne einzusammeln."

Das mag zu einem großen Teil großspurige Taliban-Propaganda sein. Dass die Gewalt aber trotz der immer stärkeren Bundeswehr-Präsenz eskaliert, ist unstrittig. Kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge oder Gefechte. Erst vor zwei Tagen wurden bei Kämpfen vier deutsche Soldaten verletzt, nach Angaben der Bundeswehr wurden mindestens drei Aufständische getötet. Ein Hauptfeldwebel, der alleine in den ersten vier Wochen seines Einsatzes in fünf Feuergefechte verwickelt wurde und bereits 2008 in Kundus war, sagte kürzlich: "Die Lage hat sich im Vergleich zum vergangenen Jahr um 180 Grad gewendet. Das ist Krieg. Definitiv."

Debatte über Bundeswehr-Einsatz wird aufflammen

Nach dem Zwischenfall ist zudem sicher, dass die Debatte über den deutschen Einsatz am Hindukusch wieder aufflammen wird. Denn offiziell führt die Bundeswehr in Afghanistan keinen Krieg, sondern einen Stabilisierungseinsatz. "Zugegeben einen recht robusten Stabilisierungseinsatz, der Kampfhandlungen mit einschließt", wie Ministeriumssprecher Christian Dienst sagt. Doch je mehr die Taliban die deutschen Soldaten im Norden in Kämpfe verwickeln, und je mehr Opfer es dabei auf Seiten der Truppen als auch in der afghanischen Zivilbevölkerung gibt, desto kritischer dürfte die deutsche Öffentlichkeit den Einsatz beurteilen - wenige Wochen vor der Wahl keine einfache Lage für die politischen Befürworter des Afghanistanfeldzugs.

nik mit DPA