Israel Tödliches Morgenrot

Von Sabine Brandes, Sderot
Während israelische Soldaten im Gaza-Streifen operieren, werden die Städte im Süden Israels von der Hamas mit Raketen beschossen. An manchen Tagen schlagen mehr als 80 ein. Eine Million Israelis leben in permanenter Angst. Seit über einer Woche können sie die Schutzbunker kaum verlassen.

Nach der Abfahrt von Rischon Le'Zion ist die Autobahn Vier in Richtung Süden plötzlich merklich leerer. Wer im Moment nicht unbedingt hierher muss, der bleibt weg. Die Straße führt geradewegs nach Aschkelon, Sderot und Netivot. Die Namen auf den Ortschildern haben mittlerweile traurige Berühmtheit erlangt. Es sind allesamt israelische Städte, die in der Nähe des Gaza-Streifens liegen. Seit Jahren werden sie mit grausamer Regelmäßigkeit von Raketen der Hamas beschossen. Immer wieder gibt es Tote und Verletzte. Seit dem Jahr 2000 starben an die 200 Menschen. Allein in den vergangenen acht Tagen wurden rund 250 verletzt.

Direkt nach dem Ende der Waffenruhe zwischen Israel und Hamas donnerten die Geschosse fast unaufhörlich in die Städte, Dörfer und Kibbutzim der Umgebung. An manchen Tagen schlugen mehr als 80 Kassams und Gradraketen ein. Alle 18 Minuten eine. Zeit für Alltag bleibt da nicht. Auch während Israels Militäroperation in Gaza bleiben sie nicht aus. Am Sonntag landeten mehr als 50 in verschiedenen Ortschaften des Südens. Ist ein Geschoss im Anflug, ertönt der schrille Alarm mit dem trügerischen Namen "Morgenrot" durch die ganze Stadt und zerreißt jeglichen Anflug von Normalität. Wie wichtig die Beschäftigung auch sein mag, gellt die Sirene, gibt es nur ein Ziel: den nächsten Bunker. Für die Bewohner der Kleinstadt Sderot ist dieser Zustand seit acht langen Jahren unausweichliche Realität.

Fast jeder Zweite ist traumatisiert

Es ist ein ärmliches staubiges Städtchen, das nicht besonders viel zu bieten hat. Nur fünf Kilometer Luftlinie vom Gaza-Streifen entfernt, sitzt den 23.000 Einwohnern die Angst ständig im Nacken. Psychologen gehen davon aus, dass fast jeder Zweite schwer traumatisiert ist und unter einem Stress-Syndrom leidet. Es gibt Kinder und Jugendliche, die wieder ins Bett nässen, manche von ihnen sind schon 16 Jahre alt. Die wenigsten Gebäude der Kindergärten und Schulen sind schusssicher verstärkt, es fehlt das Geld. Deshalb sind sie seit über einer Woche geschlossen. In diesen Tagen gleicht Sderot gänzlich einer Geisterstadt, nur hier und da huscht jemand über die Straße um die nötigsten Lebensmittel einzukaufen. Auf den Spielplätzen verfallen die Geräte, die Schaukeln quietschen, keiner kümmert sich. Warum auch, niemand geht mehr hin.

"Man kann das Leben nicht immer wieder anhalten", sagt Mosche Levi, der seit 20 Jahren hier lebt. "Bis auf wenige Atempausen befinden wir uns praktisch ständig unter Beschuss. Das ist nicht gesund für die Seele, wir werden hier noch alle wahnsinnig. Aber auch wir müssen arbeiten, in die Schule gehen, einkaufen, essen, trinken. Wir können doch nicht von Bomben leben." Levi ist traurig über den Kriegszustand, aber überzeugt, dass die Offensive gegen die Hamas die einzige Möglichkeit ist, die Raketen endlich zu stoppen. "Warum soll Israel sich noch zurückhalten? Wir haben schon viel zu lange nicht reagiert. Jetzt muss ein für alle Mal Schluss damit sein. Wir wehren uns - und es ist höchste Zeit. Hamas hat uns in diese Situation gebracht."

"Keine Nation würde den Zustand tolerieren"

"Keine Nation der Welt würde den Zustand tolerieren, seine Zivilbevölkerung in ständigem Terror leben zu lassen", machte Oppositionsführer Benjamin Netanjahu klar. Am Sonntag ließ Ministerpräsident Ehud Olmert verlauten, dass Israel nichts gegen die Zivilbevölkerung Gazas habe, die Bodeninvasion jedoch unvermeidbar gewesen sei. Nach Angaben der Armee sind die Zivilisten vor jedem Einsatz mit Flugblättern gewarnt worden. Ziel der Operation sei es, Hamas' Infrastruktur samt Abschussbasen zu zerstören, um die permanente Bedrohung der israelischen Bevölkerung zu stoppen, erklärte Verteidigungsminister Ehud Barak. Zwar steht die überwiegende Mehrheit der Israelis voll und ganz hinter der Militäroperation, doch auch Kritiker lassen von sich hören. Am Samstagabend nach dem Ende des jüdischen Schabbats versammelten sich Tausende linksgerichteter Kriegsgegner auf dem Rabin-Platz im Herzen Tel Avivs, um ihrem Unmut über die Regierungspolitik Luft zu machen. Sie wollen weiterhin auf Dialog setzen, nicht auf Bomben.

Mosche Levis Tochter Maja kennt kein Leben ohne Raketen. Sie besucht die dritte Klasse der Grundschule von Sderot, wenn sie denn geöffnet ist. Auf dem Schulhof dürfen sich die Schüler lediglich in Reichweite des Sicherheitsraumes bewegen. "Wenn wir Gummitwist spielen, machen wir das meist direkt am Bunker", erzählt die Neunjährige. Alle paar Wochen veranstalten die Schulen und Kindergärten Übungen, was genau im Alarmfall zu tun ist. "Aber wir wissen das alle schon, denn es passiert ja andauernd", sagt Maja. Sie würde gern öfter mit ihren Freundinnen draußen sein. Ihre Eltern winken ab. "Zu gefährlich", sagt Vater Mosche. Deshalb spielt sie meist in ihrem Zimmer. Dort hat sie ein wunderschönes Himmelbett. Darin schlafen darf sie nicht. "Auch zu gefährlich."

Wie Maja und ihre Familie müssen sich momentan eine Million Israelis in Bunkern aufhalten, die meisten von ihnen übernachten auch in den improvisierten Räumen, oft rücken Verwandte und Bekannte zusammen, denn nicht jeder hat einen eigenen Schutzraum. Wen die Platzangst packt, darf in den Alarmpausen zwar raus, muss sich aber in unmittelbarer Nähe aufhalten. Je nachdem, wo sie leben, haben die Menschen zwischen 15 und 45 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die Schrapnelle trafen ihren ganzen Körper

Immer weiter reichen die Raketen ins israelische Kernland. Normalerweise schießt die Hamas mit den so genannten Kassams, die die Mitglieder in Handarbeit in provisorischen Kellerlabors herstellen. Zusehends werden auch die weiterreichenden Grad-Raketen abgefeuert, offenbar durch Tunnel zu Ägypten ins Hamas-Gebiet geschmuggelt. Sie reichen bis nach Aschdod, mit 230.000 Einwohnern Israels fünftgrößte Stadt. Damit sind sie lediglich noch 20 Kilometer von der Metropole Tel Aviv entfernt. Seit Sonntag herrscht eine andere Realität in Aschdod, der Stadt, die eigentlich berühmt ist für ihre kilometerlangen Sandstrände am Mittelmeer. Tatsächlich glitzert auch in diesen Tagen das blaue Nass verführerisch in der Wintersonne, doch Augen dafür hat niemand.

"Die Raketen werden eines Tages sicherlich auch nach Tel Aviv kommen, wenn diejenigen, die dafür verantwortlich sind, nicht gestoppt werden", erklärt Aschdods Bürgermeister Yechiel Lasri, nachdem wieder eine eingeschlagen ist. Diesmal gibt es glücklicherweise nur eine Leicht-Verletzte. Die beiden Frauen, die am vergangenen Montag aus dem Fitnessstudio kamen, hatten kein Glück: Gerade, als Irit Schitrit und ihrer Schwester Ajelet in ihr Auto gestiegen waren, knallte neben ihnen eine Gradrakete in den Boden. Zwar schaffte es Irit noch, sich unters Auto zu werfen, doch die Schrapnelle trafen ihren ganzen Körper. Sie starb noch am Unglücksort, ihre Schwester wurde verletzt.

"Das Leben ist so kein Leben"

Das Leben sei so kein Leben, meint Levi nachdenklich. Das Gefühl, ständig in Gefahr zu sein, bestimme nach einer Weile alles. Während des Alarmzustandes ist der Alltag streng reguliert, Flugblätter und Radiodurchsagen informieren die Menschen rund um die Uhr. So darf es außerhalb der Bunker keine Menschenansammlungen geben. Keine Schule, keine Gottesdienste, keine Konzerte oder sonstige Veranstaltungen. Noch nicht einmal eine kleine Geburtstagsparty.

Bei einem besonders schweren Hamas-Angriff auf Sderot im März des vergangenen Jahres verlor der neunjährige Oscher Twito ein Bein, auch sein Bruder wurde schwer verletzt. Eigentlich wollte Oscher Profi-Fußballer werden, doch das geht jetzt nicht mehr. Die Familie kehrte ihrer Heimatstadt den Rücken, zog ins 25 Kilometer nördlich gelegene Aschdod, in der Annahme, hier endlich Ruhe und Frieden zu finden. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Jetzt sitzen Oscher und sein Bruder wieder im Bunker und beten, dass sie nicht noch eine Rakete trifft.

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