Die versehentliche Tötung von drei Geiseln im Gazastreifen durch die israelische Armee hat in Israel tiefe Bestürzung ausgelöst. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete den Vorfall am Freitag als "unerträgliche Tragödie" und sagte: "Der ganze Staat Israel trauert in dieser Nacht". Die Männer waren von der radikalislamischen Hamas verschleppt und bei Kämpfen in Shujaiya im Norden des Gazastreifens von israelischen Soldaten erschossen worden.
Die Armee äußerte "tiefstes Bedauern über den tragischen Vorfall". Er werde untersucht, "sofortige Lehren" seien gezogen und an alle israelischen Einheiten weitergegeben worden. Armeesprecher Daniel Hagari versprach eine "transparente Untersuchung".
Viele Details des Vorfalls sind noch nicht bekannt. Doch laut Hagari wurden die drei Geiseln von Soldaten "versehentlich als Bedrohung identifiziert". Daraufhin hätten die Soldaten auf die Geiseln geschossen und sie getötet. Die israelische Armee vermute, dass die drei Geiseln entweder der Hamas entkommen sind oder von ihren Entführern freigelassen wurden.
Getötete Geiseln ohne Hemden und mit weißem Tuch
Am Samstag gab die Armee neue Einzelheiten bekannt. Die getöteten Männer seien mehrere Dutzend Meter von den Truppen entfernt aus einem Gebäude gekommen, sagte ein israelischer Militärvertreter. Sie hätten keine Hemden getragen, einer habe einen Stock mit einem weißen Tuch in der Hand gehabt. Ein Soldat habe sich bedroht gefühlt und das Feuer eröffnet.
Zwei der Männer seien sofort getötet worden. Ein dritter Mann sei ins Haus geflüchtet. Ein Kommandeur habe befohlen, das Feuer einzustellen, doch als der dritte Mann wieder ins Freie trat, sei erneut geschossen worden. Dabei sei auch er getötet worden. "Ich möchte sehr deutlich sagen, dass dieses Vorgehen gegen unsere Einsatzregeln war", sagte der Militärvertreter. Es sei auch ein Hilferuf in hebräischer Sprache zu hören gewesen.
Dennoch machte der Militärvertreter deutlich, dass es sich bei dem Gebiet um eine aktive Kampfzone handele. Dort seien bereits Truppen in Hinterhalte gelockt worden.
Zwischen Bangen und Erleichterung: So wurden die Geiseln bei ihrer Rückkehr empfangen

Leichen der Geiseln nach Israel gebracht
Ob es einen Zusammenhang mit einem nahe gelegenen Haus gibt, an dem die Buchstaben SOS angebracht waren, werde derzeit untersucht. Die Truppen im Gazastreifen seien an die Einsatzregeln erinnert worden, um solche tragischen Vorfälle zu vermeiden, hieß es. Die Untersuchung des Vorfalls dauere noch an.
Die Leichen der drei Geiseln wurden nach Armeeangaben nach Israel gebracht. Die israelischen Streitkräfte identifizierten die irrtümlich Getöteten als den 26-jährigen Alon Lulu Schamris und den 28-jährigen Heavy-Metal-Schlagzeuger Jotam Haim, die beide aus dem Kibbuz Kfar Asa entführt worden waren, sowie den 25-jährigen Beduinen Samer El-Talalka aus dem Kibbuz Nir Am.
Die israelischen Streitkräfte sind inzwischen zu erhöhter Vorsicht angewiesen worden. "Wir haben unseren Soldaten gesagt, dass sie zusätzliche Vorsicht walten lassen sollen, wenn sie mit Personen in Zivilkleidung konfrontiert werden", sagte der israelische Armeesprecher Jonathan Conricus am Samstag dem US-Fernsehsender CNN. Der Sprecher wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass viele Kämpfer der islamistischen Hamas in Zivilkleidung gegen die israelische Armee kämpften. "Ein trauriges Ereignis wie dieses wird unsere Entschlossenheit nicht erschüttern und uns nicht von unserem klaren Ziel ablenken, die Hamas zu zerschlagen", betonte Conricus.

Demonstranten fordern neues Geisel-Abkommen
Der tragische Vorfall hatte in Israel spontane Proteste ausgelöst. Während sich die Nachricht von der versehentlichen Tötung der drei Geiseln verbreitete, versammelten sich am Freitagabend Hunderte Demonstranten vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv. Unter ihnen waren auch Angehörige der Geiseln. Die Organisatoren warfen der Regierung vor, nicht genug für die Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln zu tun.
Die Demonstranten forderten ein rasches neues Abkommen zur Freilassung der verbliebenen Geiseln. In der Menge wurden israelische Flaggen geschwenkt und Plakate mit Porträts von Geiseln hochgehalten. "Jeden Tag stirbt eine Geisel", stand auf einem der Plakate.
"Wir sind nach einem niederschmetternden Abend hier versammelt, und ich sterbe vor Angst", sagte der Demonstrant Merav Svirsky, dessen Bruder als Geisel in den Gazastreifen verschleppt wurde. "Wir fordern, dass es jetzt ein Abkommen gibt."
Die von der EU und den USA als Terrororganisation eingestufte Hamas hatte nach ihrem Großangriff auf Israel am 7. Oktober, bei dem mehr als 1100 Menschen getötet wurden, rund 250 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Im Rahmen einer zwischen Israel und der Hamas vereinbarten Waffenruhe wurden Ende November innerhalb einer Woche rund 100 Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entließ Israel 240 palästinensische Häftlinge aus den Gefängnissen. Die Vereinbarung war von Katar, Ägypten und den USA vermittelt worden.
USA: Tod der Geiseln "herzzerreißend" und "tragisch"
Das Nachrichtenportal "Axios" berichtete am Freitagabend, der Direktor des israelischen Geheimdienstes Mossad, David Barnea, werde sich am Wochenende in Europa mit dem katarischen Regierungschef Mohammed ben Abdelrahmane Al-Thani treffen. Dabei solle es um eine zweite Waffenruhe zur Freilassung der Geiseln gehen. Über den genauen Ort des Treffens und die Zahl der Geiseln, die freigelassen werden könnten, machte "Axios" keine Angaben.
Die US-Regierung bezeichnete den Tod der drei Geiseln als "herzzerreißend" und "tragisch". "Das ist natürlich nicht das Ergebnis, das sich irgendjemand gewünscht hat", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Freitag. Er gehe davon aus, dass die Israelis den Vorfall genau untersuchen würden, um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Der Fall sei aber nicht geeignet, ein allgemeines Urteil über die Fähigkeit des israelischen Militärs zu präzisen Aktionen im Gazastreifen zu fällen, so Kirby weiter.
Die US-Regierung hatte zuletzt nach Gesprächen mit der israelischen Führung die Erwartung geäußert, dass Israel von einem militärischen Vorgehen "hoher Intensität" im Gazastreifen zu "gezielteren" Militäroperationen übergehen werde. Einen Zeitraum dafür nannte Washington allerdings nicht.