Es war ein Anblick, der in die Geschichtsbücher eingehen sollte: Als Kamala Harris am 20. Januar vergangenen Jahres vor dem Kapitol ihren Amtseid ablegte und schwor, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu verteidigen, war ihr Tatendrang und der Wille nach Veränderung deutlich zu spüren. Die erste Frau, die erste Schwarze und die erste asiatisch-amerikanische Person im US-Vizepräsidentenamt – die Erwartungen hätten nicht höher sein können.
Nicht wenige hatten gehofft, dass Joe Biden nur ein Übergangspräsident sein und Harris 2024 in seine Fußstapfen treten würde.
Doch zwölf Monate später hat sich Ernüchterung breit gemacht. In nationalen Umfragen von Gallup und Real Clear Politics sind gerade einmal 40 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit Harris zufrieden. Nach nur einem Jahr steht sie damit schlechter da, als Biden selbst sowie ihre republikanischen Vorgänger Mike Pence und Dick Cheney.
Wie konnte es dazu kommen?
Kamala Harris und das undankbare "Nummer zwei"-Amt
Erst letzte Woche hatte sich US-Präsident Joe Biden auf den Weg ins Kapitol gemacht, um die Demokraten von einer Änderung der Abstimmungsregeln im Senat zu überzeugen. Harris, der Biden im Juni die Federführung der geplanten Gesetzesänderung übertragen hatte, war dabei nicht anwesend. Weder die Pressesprecherin des Weißen Hauses noch Harris Mitarbeiter fanden eine klare Antwort darauf, warum die Vizepräsidentin nicht an Bidens Seite stand.
Es ist nur eines von vielen Beispielen, bei denen Harris politisch im Schatten bleibt.
Fakt ist, der Job der Nummer zwei war in den USA schon immer schwierig. Der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin sitzt mit in der Machtzentrale, doch bei allen wichtigen Entscheidungen hat der Präsident selbst das letzte Wort. Harris hängt also – genau wie all ihre Vorgänger – ganz von der Gunst des Chefs ab. Selbst in den besten Zeiten ist es für jeden Vizepräsidenten schwer zu glänzen, wusste schon Roy Neel, der als Stabschef des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore diente. Und dies sind wahrlich nicht die besten Zeiten.
So konnte Harris aufgrund der Corona-Pandemie längst nicht so oft öffentlich in Erscheinung treten, wie sie und ihr Team es sich gewünscht hätten. Zudem lassen sich die für Vizepräsidenten typischen Auslandsreisen bei ihr an einer Hand abzählen, wodurch ihr diplomatische Engagement virusbedingt weitgehend auf virtuelle Meetings reduziert wurde.
Doch gerade von Harris hatten sich viele Amerikanerinnen und Amerikaner mehr erhofft. Sie, die nach ihrem Wahlsieg im November 2020 noch voller Stolz verkündet hatte: "Jedes kleine Mädchen, das heute Abend zuschaut, erkennt: Dies ist ein Land der Möglichkeiten." Sie, die in ihrem Leben so oft als Erste die Möglichkeiten ergriffen hat: Als erste Generalstaatsanwältin von Kalifornien, wo sie sich lautstark für strengere Waffengesetze einsetzte, als erste schwarze Senatorin von der Westküste, wo sie sich als harte Kritikerin von Trumps Einwanderungspolitik einen Namen machte – und nun als erste Vizepräsidentin im Weißen Haus.
Bei politischen Kernthemen blass geblieben
Fest steht, die Aufgaben in Harris ersten Amtsjahr hätten kaum komplexer sein können. Ganz oben auf ihrer Agenda stand das Thema Migration und die Krise an der Südgrenze der Vereinigten Staaten. Jeden Monat versuchen dort tausende Menschen aus Lateinamerika illegal in die USA zu gelangen. Besonders dramatisch spitzte sich die Situation im September im Grenzort Del Rio zu, wo zwischenzeitlich mehr als Zehntausend Migranten unter einer Brücke ausharrten. Die Vizepräsidentin reiste daraufhin nach Mexiko und Guatemala und setzte sich dafür ein, die Anzahl bestimmter Arbeitsvisa zu erhöhen. Von den Republikanern musste sie sich danach vorwerfen lassen, die Grenzkrise nicht unter Kontrolle zu haben und die Verwaltungsbehörden, die mit dem erheblichen Anstieg an Migranten zu kämpfen hatten, im Stich zu lassen.
Doch nachdem Harris ein deutliches "Do not come!" an die Menschen in Lateinamerika richtete, wurde auch Kritik in den eigenen Reihen laut. Sie sei von dem Kommentar der US-Vizepräsidentin enttäuscht, twitterte damals ihre Parteikollegin Alexandria Ocasio-Cortez. Auch der Präsident der "League of United Latin American Citizens", Domingo Garcia, kritisierte die Bemühungen Harris als "zu wenig, zu spät". Es sei als würde die Vizepräsidentin, die sich auf ihren Reisen weder mit NGOs noch Bürgerrechtlern getroffen habe, im Dunkeln nach einer Lösung tappen.
Im Dunklen tappt Harris auch im Kongress, wo sie im Auftrag Bidens Gesetzesänderungen angeschoben hatte, die den Weg für die geplante Wahlrechtsreform der US-Regierung ebnen sollten. Dieses Vorhaben gilt seit Mittwochabend offiziell als gescheitert. Weder Harris noch Biden gelang es alle demokratischen Senatoren für die Abschaffung der sogenannten "Filibuster-Regel" an Bord zu holen, mit deren Hilfe sich die Republikaner bei der Wahlreform weiterhin querstellen konnten. Die Vizepräsidentin zeigte sich daraufhin sichtlich enttäuscht: "Das amerikanische Volk wird diesen Moment nicht vergessen. Die Geschichte wird es auch nicht", schrieb sie in einer Erklärung.
Politologe: "Harris noch nicht abschreiben"
Was für ein Licht die Geschichte auf Kamala Harris selbst werfen wird, muss sich erst noch zeigen. Doch es zeichnet sich bereits ab, dass der hohe politische Druck und die ausbleibenden Erfolge auch an ihrem engsten Kreis nicht spurlos vorbeigehen. In den letzten Wochen geriet Harris mehrfach negativ in die Schlagzeilen – darunter wegen konfuser Interviewaussagen und Kündigungen einiger ihrer Top-Mitarbeiterinnen. Zuvor hatten sich bereits mehrere Angestellte anonym über das schwierige Arbeitsklima und eine übermäßig harsche Chefin beschwert.
Von einer "uneinheitlichen Bilanz" spricht auch Martin Thunert, Politikwissenschaftler am Heidelberg Center for American Studies der Universität Heidelberg. Wie Biden selbst, habe Harris einen fulminanten Start hingelegt, seit dem Sommer geht es jedoch eher nach unten, sagte Thunert dem stern mit Blick auf die schlechten Zustimmungswerte. Während von Beginn an viel zu hohe Erwartungen und Hoffnungen in ihre Vizepräsidentschaft hineinprojiziert worden seien, wurde sie gleichzeitig mit anspruchsvollen Aufgaben betreut – in denen man leicht scheitern konnte.
Ist Kamala Harris damit schon aus dem Rennen für 2024 ausgeschieden?
"Nein", meint der Politologe. "Harris ist politisch angeschlagen, aber abschreiben würde ich sie noch lange nicht." Ihre Aufgabe bestehe nun darin, ihre Amtsführung in den Griff zu bekommen und dabei zu helfen, dass ihre Partei bei den Kongresswahlen Anfang November keine allzu schwere Niederlage erleidet. Mehr sollte man momentan nicht erwarten.
Quellen: "New York Times", "LA Times", "Politico", "Business Standard"