Mark Perryman sah wirklich nicht so aus, wie man sich einen Philosophen so vorstellt. Er stand am Rande eines Fußballfeldes in kurzen Hosen und mit einem Megaphon in der Hand und sah englischen Fans in Ritterrüstung zu, die gegen amerikanische Fans Fußball spielten. Vor dem Anpfiff sagte er zu den Amerikanern: „Das Spiel heißt hier Football und nicht Soccer, gespielt wird zweimal fünfundvierzig Minuten, es gibt hier auch keine Unterbrechungen wegen Werbung. Verstanden?“ Als die Amerikaner ein Tor schossen, rief er ins Megaphon „Eins zu null für die Kolonien.“
Das war vor ein paar Jahren und sehr amüsant. Perryman lehrt über Freizeitkultur an der Universität von Brighton. Er schreibt außerdem Bücher und Kolumnen über Fußball, seine alte Liebe. Und wie das so ist mit alten Lieben, seit einiger Zeit schreibt er über Fußball wie über eine im Streit Verflossene. Mark hat die Schnauze voll, oder präziser: Er hat von der Premier League die Schnauze voll. Er geht schon seit Jahren nicht mehr zu seinem einstigen Lieblingsverein Tottenham Hotspurs. Es geht ihm ums Prinzip. Er nennt die Liga ein Monster.
Gerade eben hat die Premier League wieder einen aberwitzigen Fernsehvertrag abgeschlossen: 5,14 Milliarden Pfund, fast sieben Milliarden Euro für drei Jahre. Wenn man die Auslandsrechte noch dazu addiert, steht eine Summe von 9,5 Milliarden Euro oder umgerechnet pro Spiel 10 Millionen Euro. Und nur zum besseren Verständnis: Es wird – anders als in Deutschland – nicht jedes Spiel gezeigt. Das Pay-TV-Paket umfasst lediglich 168 Live-Übertragungen und damit nicht einmal die Hälfte der Ligaspiele. Das macht den Wahnsinn noch wahnsinniger. Der Chef der Premier League sagt, das Produkt sei eben begehrt.Tendenz: eher noch steigend. Die Zeit naht, da Fußballprofis in England eine halbe Million Pfund verdienen werden. Pro Woche.
"Mein Gott! Die Bundesliga ist ein Leuchtturm!"
Es sind Zahlen, von denen die Bundesliga Lichtjahre entfernt ist, die Bundesligaklubs erzielen pro Saison nicht annähernd eine Milliarde Euro. Klaus Allofs, der Sportdirektor vom Werksverein VfL Wolfsburg, und Rudi Völler, der Sportdirektor vom anderen Werksverein Bayer Leverkusen, wünschen sich nun ähnliche Verhältnisse für Deutschland, eine Art Premier League light. Nicht ganz so gierig vielleicht, aber allemal gieriger als zur Zeit. Sonst, sagen die Männer von den Werksklubs, laufe die Bundesliga der Premier League bis zum St. Nimmerleinstag hinterher. Sie sagen auch, es dürfe keine Tabus mehr geben. Bundesliga mittags um zwölf zum Beispiel. Oder auch montags abends. Der Chef der Deutschen Fußball Liga Christian Seifert will „unpopuläre Maßnahmen nicht ausschließen“. Er hörte sich an wie ein Politiker. Die Leute, das steckt dahinter, werden sich schon dran gewöhnen.
Man könnte nun ketzerisch vermuten, dass die Leute in Wolfsburg oder Leverkusen schon deshalb auch samstags mittags um zwölf ins Stadion rennen würden, weil man in Wolfsburg und Leverkusen samstags mittags nicht Besseres anstellen kann, außer vielleicht in die Autostadt gehen (Wolfsburg) oder nach Köln fahren (Leverkusen). Aber das wäre ketzerisch. Jedenfalls, das schreiben nun auch sogenannte Experten auf den Wirtschaftsseiten, verkaufe sich die Bundesliga nicht mehr zeitgemäß. Von England lernen, hieße siegen lernen. Sieht man vielleicht mal von den Ergebnissen ab. Aber darum geht es den Wirtschaftsexperten ja nicht, zumindest nicht um die Ergebnisse auf dem Platz. Ihnen geht es eher um die Tabellen im Wirtschafts- als im Sportteil.
Davon erzählte ich Mark, und der Philosoph reagierte darauf ganz und gar unphilosophisch und regelrecht unwirsch. „For God’s sake: NO!“, rief er. Das Gegenteil sei doch Fall. Die Erfinder des Fußballs müssten längst von den Deutschen lernen, die Bundesliga sei ein Vorbild, er sprach sogar von einem „Leuchtturm“. Und geriet derart ins Schwärmen über den alten Rivalen, dass es ihm fast ein bisschen peinlich war. „Ihr macht doch alles richtig in Deutschland. Die Eintrittspreise finanzierbar, die Stadien modern und voll, die Nationalmannschaft toll, die Jugendarbeit vorbildlich. Die Bundesliga keinen Deut schlechter als die englische trotz weniger Geld! Und die Klubs im besten Sinne sozialdemokratisch und noch in der Hand der Gemeinschaft und nicht in den Krallen von Scheichs und Oligarchen. An der Spitze unserer großen Vereine standen auch früher Gauner. Aber es waren wenigstens unsere Gauner.“ Er kenne jede Menge Freunde und Bekannte, die deshalb am Wochenende ins Flugzeug steigen und nach Deutschland fliegen und dort Bundesliga oder auch zweite Liga gucken und Bier trinken und wieder zurückfliegen, immer noch günstiger als Premier League. Und lustiger. Dann machte er eine Pause. Und sprach: „Wir beneiden Euch. Und das muss ausgerechnet ein Engländer sagen…“
Die Milliarden, weissagte er, würden schnurstracks in Spieler und Spielergehälter investiert, und die einzigen, die davon profitierten, seien Immobilien- und Ferrari-Händler und Juweliere in den noblen Speckgürteln von London und Manchester. Die Taschen der Klubs zum Bersten voll, die der Profis noch voller, aber die Zuschauer würden nichts davon haben. „Der englische Fußball ist drauf und dran, seine working-class-Wurzeln zu verlieren. Das Durchschnittsalter der Stadionbesucher liegt bei über 40 Jahren. Doppelt so hoch wie 1990. Und warum? Weil die Ticketpreise so unverschämt hoch sind, viermal höher als bei Euch.“
Mark kriegte sich gar nicht mehr ein. Wenn Philosophen mal ins Reden kommen, geraten sie leicht ins Philosophieren.
"Wollt Ihr das wirklich, England als Vorbild?"
„Und dann die Nationalmannschaft!“ Schlimmes Thema für einen Engländer. Vor allem im Gespräch mit einem Deutschen. Gewinnt nichts, taugt nichts, das englische Team. Weil ausländische Stars in der Premier League spielen und englische Spieler auf der Bank sitzen, hochbezahlt zwar, aber eben nur auf der Bank. Gerade erst hat der englische Trainer Roy Hodgson darum gefleht, dass sein Assistent Gary Neville auch Assistent bleibt und nicht beim Sender Sky, wo er Fernsehexperte ist und derart viel Geld verdient, dass er auf den Co-Trainerjob gut verzichten kann. So sei das in England, sagte Mark. Vermutlich müssten sie bis ewig warten, ehe sie mal wieder was gewinnen, und ob er das noch erlebe, das frage er sich. Aber erst mal fragte er mich: „Wollt Ihr das in Deutschland. Wollt Ihr das wirklich? England als Vorbild?“
Ich sagte: Ich nicht. Aber Allofs und Völler und der Chef der Liga und bestimmt noch ganz viele Finanzheinis. Da seufzte Mark und zitierte einen Deutschen. „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“. Marx, Kommunistisches Manifest. Er sagte noch, die Entweihung des Fußballs kenne offenbar keine Grenzen. Hat darüber eine Kolumne im „Guardian“ geschrieben, Titel: „Die Premier League hat sich selbst zerfressen.“ Und das sollten die Deutschen als Warnung verstehen. Wehret den Anfängen.
Dann musste er los. Es spielte sein Verein, der Lewes FC, fünfte Liga Sussex. Stehplatz und Bier. Fast wie in der schönen Bundesliga.