London U-Bahn-Streik legt die ganze Stadt lahm

Drei Millionen Fahrgäste benutzen jeden Tag die Londoner U-Bahn. Durch den Streik der Bediensteten ist die britische Hauptstadt praktisch lahm gelegt worden. Noch ist die Stimmung gelassen - doch sie könnte schnell kippen.

Die Londoner laufen. Lange Schlangen von Anzugträgern mit Aktentaschen ziehen sich durch die Wege vom St. James Park bei Westminster und die Straßen hinauf, die von den Bahnhöfen Victoria und King's Cross zu den Büros in der City of London oder in Soho führen. Ganze Trauben von Radfahrern standen vor roten Ampeln neben langen Schlangen schwarzer Taxis, keines davon ohne Fahrgäste. Hunderttausende warteten am Morgen an den U-Bahnstationen auf Busse oder Taxis, Augenzeugen berichteten von unkontrollierten Drängeleien und ersten Prügeleien vor den völlig überfüllten Doppeldeckerbussen. Polizei musste die Pendler zurückdrängen und im Zaum halten, damit der Verkehr nicht ganz zusammenbrach.

Von zwölf U-Bahnlinien liegen neun bis Freitagmorgen still, die übrigen drei fahren mit übervollen Waggons. Vor allem die Piccadilly-Linie, die einmal quer durch die Innenstadt fährt, war am frühen Morgen des ersten Streiktages teilweise so voll, dass die U-Bahneinsteige für mehr als eine Stunde einfach gesperrt wurden, um mit dem Rückstau fertig zu werden.

Sonnen statt arbeiten

Doch trotz des Pendler-Stresses in den Stoßzeiten ist die Stimmung in der Stadt größtenteils gelassen - wohl vor allem, weil das Wetter so gut ist. Viele genossen erst einmal die Sonne bei den erzwungenen Spaziergängen zu ihren Arbeitsstellen. Andere nutzten die Wartezeiten vor den U-Bahneingängen für Einkäufe oder starteten ihre Reise gleich etwas später. Wer heute zu spät zur Arbeit kam, war entschuldigt. Veranstaltungen im Zentrum Londons addierten zu der eigentlichen Anfangszeit noch eine halbe Stunde Streikbonus hinzu - beim Vortrag des Direktors des "Sydney Institute" in Westminster zur australischen Strategie gegen radikalen Islamismus, zum Beispiel, nutzten die Besucher die gewonnene Zeit für den Austausch von Business-Karten.

Doch lange wird die Gelassenheit wohl nicht anhalten, vor allem, weil nicht nur weitere zwei Tage Streik diese Woche drohen, sondern weitere drei in der nächsten Woche. 3,2 Millionen Menschen müssen also fast zwei Wochen lang Alternativen finden, um zur Arbeit zu kommen. Alternativen, die oft sehr kostspielig sind - oder aufwändig. Eine Taxifahrt von den Zonen 3 oder 4 der U-Bahn, in denen viele Pendler wohnen, kostet beispielsweise mindestens 30 Pfund für den einfachen Weg. Und Busse brauchen oft doppelt bis dreifach so lange wie die Untergrund-Züge. 50 Millionen Pfund soll der Streik die Londoner Wirtschaft jeden Tag kosten. Rechnet man dazu den Stress und die Unannehmlichkeiten, die jeder Pendler tagelang aushalten muss, ist verständlich, dass kaum jemand Verständnis für die Streikenden zeigt.

Garantie für Jobs und Renten

Die 2700 Mitglieder der Gewerkschaft RMT, die den Arbeitsausstand ausgerufen hat, wollen die Garantie, dass Jobs und Renten nach dem Bankrott ihres Arbeitgebers Metronet erhalten bleiben. Der Bürgermeister Ken Livingstone besteht darauf, dass diese Forderungen schon längst erfüllt seien. Tatsächlich haben zwei weitere Gewerkschaften, deren Mitglieder bei den U-Bahn-Linien Piccadilly, Jubilee und Northern arbeiten, ihre Streiks nach den Verhandlungsergebnissen abgeblasen.

Livingstone nennt den Arbeitsausstand "völlig sinnlos" und macht vor allem einen Mann für die Misere verantwortlich: den Gewerkschaftsboss der RMT, Bob Crow. Keine Londoner Zeitung vergisst heute, Crows ehemalige Mitgliedschaft bei den Kommunisten zu erwähnen. Crow gilt als Hardliner, einer der letzten Gewerkschaftsführer aus den Zeiten, als die Arbeiterführer sich endlose Kämpfe mit der Regierung Thatcher leisteten und vor allem Nordengland über Monate lahm legten. Gegner werfen Bob Crow vor, dass er weit mehr erreichen will, als nur die Renten seiner Mitglieder für immer und ewig festzuschreiben: Er soll die Privatisierung der U-Bahn rückgängig machen wollen.

Zwei Milliarden Pfund Schulden

Tatsächlich ist die Public Private Partnership in diesem Sommer, zumindest was die Instand-Haltungsfirma Metronet anging, ziemlich spektakulär gescheitert. Metronet ist pleite - und wer immer den Betrieb übernehmen wird, kauft sich zwei Milliarden Pfund Schulden mit ein. Der Londoner Bürgermeister Livingstone will Metronet wieder in den "Transport for London" eingliedern, der zur Stadt London gehört. Ohne die Schulden, versteht sich. Die meisten Londoner hoffen, dass es doch noch eine Einigung geben wird zwischen dem dickköpfigen Gewerkschaftsboss Crow und den Trustees, die die Reste von Metronet verwalten. Inzwischen hat auch Gordon Brown verlauten lassen, dass die Unterbrechung des gesamten Londoner Innenlebens "inakzeptabel" sei.

Am zweiten Streikabend werden sich wieder Millionen Menschen zu Fuß, auf dem Fahrrad, in überfüllten Bussen oder den wenigen U-Bahnen auf den Weg nach Hause machen. Die meisten brauchen weit mehr als zwei Stunden auf ihrem Weg in die Vororte. Tatsächlich kommt man im Moment einfacher nach Paris als nach Walthamstow. Inmitten der Streikposten am Bahnhof King's Cross fuhr heute das erste Mal der Eurostar nach seiner Fahrt auf der neuen Hochgeschwindigkeits-Trasse ein - exakt zwei Stunden und fünf Minuten nach seiner Abfahrt vom Pariser Gare du Nord.