Die besten Krimis schreibt immer noch das echte Leben. Zumal wenn sie in undurchsichtigen Diktaturen mit starkem Wohlstandsgefälle spielen. Zum Beispiel in China. Gerade eben erst ist der Fall von Bo Xilai, dessen Frau wegen Mordes verurteilt wurde, aus den Schlagzeilen verschwunden, da fällt plötzlich der nächste hohe Funktionär in Ungnade. Öffentlich auch noch: Ling Jihua, oberster Berater von Präsident Hu Jintao, wurde auf Parteiebene degradiert - weil sein Sohn im März bei einem Autounfall tödlich verunglückt war. Was nach zynischer Sippenhaft klingt, scheint nur die Spitze eines heftigen Machtkampfs auf höchster politischer Ebene in Peking zu sein - Korruption, Vertuschung und Verschwörungstheorien inklusive.
Im Grunde wissen selbst gut informierte Beobachter nicht, was genau passiert ist im Frühjahr dieses Jahres. Und auch nicht, warum. Und noch weniger, ob und wer möglicherweise davon profitiert, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Bo und Ling, und ob es einen Grund gibt, dass beide Fälle nahezu zeitgleich zu Konsequenzen führten. Die Angelegenheit ist sehr verzwickt.
Falsche Identität die wie "Fälschung" klingt
Also von Beginn an: Am 20. März gegen vier Uhr morgens rast ein schwarzer Ferrari 458 Spider auf der Pekinger 4. Ringstraße gegen eine Brücke. Der Aufprall war so heftig, dass das 700.000-Euro-Geschoss in zwei Teile zerrissen wurde. Der Fahrer war sofort tot, die beiden Beifahrerinnen kamen schwerverletzt ins Krankenhaus. Der Unfall war den Medien immerhin eine kurze Notiz Wert. Was nicht in den Meldungen stand und erst jetzt ans Tageslicht kam: Die Insassen wurden offenbar halbnackt aus dem Wrack geborgen und hatten sich während ihres Trips vermutlich sexuell vergnügt. Auch das dürfte ein Grund gewesen sein, die Identität des getöteten Fahrers zu verschweigen. Auf dem Totenschein wurde der Name "Jia" vermerkt, ein Wort, das im Chinesischen wie das Wort für "Fälschung" ausgesprochen wird.
Doch jetzt, fünfeinhalb Monate später, stellt sich heraus: Der junge Mann am Steuer war der Sohn von Ling Jihua, dem engen Vertrauten Hu Jintaos. Offenbar haben die ermittelnden Behörden zunächst alles daran gesetzt, den Funktionär zu schützen. Mit aus dessen Sicht gutem Grund: Denn die chinesische Öffentlichkeit beobachtet seit einigen Jahren mit Interesse das Gebaren der äußerst wohlsituierten Kaderkinder, seitdem 2010 der Sohn eines Vizepolizeichefs eine Studentin zu Tode gefahren hatte. Nach seiner verhinderten Flucht drohte er den Polizisten mit den Worten: "Mein Vater ist Li Gang" - eine Warnung, die mittlerweile zum geflügelten Wort geworden ist. Als bitteres Sinnbild für die Kaste verwöhnter Sprösslinge aus einflussreichem Elternhaus, die sich keiner Verantwortung stellen will. Kurzum: Wer auf höchster politischer Ebene mitspielen will, sollte besser auf seine Kinder aufpassen.
Suchanfragen wie "Ferrari" und "Auto Sex" geblockt
Entsprechend neugierig verfolgten Blogger und andere Interessierte den Ferrari-Unfall. Doch die Staatsmacht holte den großen digitalen Radiergummi heraus, nur kurz nach Erscheinen der Meldung löschte die Führung in Peking sämtliche Spuren aus den Medien und dem Internet. Selbst Anfragen bei der größten chinesischen Suchmaschine Baidu mit Schlagwörtern wie "Auto Unfall", "Auto Sex" und "Ferrari" wurden blockiert. Ebenso Blogeinträge, die sich mit dem Crash beschäftigten. Ähnlich waren die Behörden schon 2010 nach dem Mein-Vater-ist-Li-Gang-Vorfall vorgegangen. Damals kam die Sache heraus, so auch diesmal. Allerdings mit dem Unterschied, dass es nun ausgerechnet die offiziellen Staatsmedien waren, die Namen und Umstände publik machten - was wiederum zu der Vermutung führt, dass sie ihr Schweigen auf Anweisung von oben gebrochen haben.
Dieser Verdacht liegt zumindest nahe. Auch wenn die Identität von Ling Jihua Sohn Gu von der englischsprachigen "South China Morning Post" veröffentlicht wurde, deren Informationspolitik deutlich offener ist, als die ihrer chinesischsprachigen Kollegen. Dennoch kocht die Gerüchteküche über. Denn klar war: Sobald die Details des Vorfalls an die Öffentlichkeit gelangen, wäre Ling Jihua nicht länger zu halten gewesen. Und so kam es auch. Er wird nicht mehr, wie eigentlich geplant, ins Politbüro befördert. Damit könnte der schreckliche Unfall plötzlich in den unübersichtlichen Intrigantenstadl des Pekinger Führungszirkels führen - und sogar im Zusammenhang mit dem Fall Bo Xilai stehen.
War die Veröffentlichung ein Racheakt der Bo-Fraktion?
Bo Xilai war bis zu seiner Entmachtung eine Art Popstar - ein linker Populist und selbsterklärter Kämpfer gegen die Korruption, allerdings nicht unumstritten und sein Auftreten stieß zudem auf wenig Gegenliebe bei Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao. Der Prozess gegen Bos Frau galt als politisch motivierte Inszenierung. Ist die jetzige Enttarnung des Unfallfahrers und das damit verbundene Aus des Hu-Vertrauten eine Racheaktion der Bo-Fraktion? Oder intrigierten andere Neidhammel und Ehrgeizlinge gegen Ling Jihua, um sich den Politbüro-Posten unter den Nagel zu reißen? Etwa Li Zhanshu, der nun wohl in das mächtigste Gremium des Landes einziehen wird.
Sicher ist, dass der Noch-Präsident künftig weniger zu sagen haben wird. Turnusgemäß muss Hu Jintao in einigen Monaten das höchste Staatsamt an einen Nachfolger abtreten. Traditionell besetzen scheidende Staatsoberhäupter das Politbüro mit Gefolgsleuten, über die sie weiterhin auf höchster Ebene mitmischen können. Im Fall des amtierenden Präsidenten wäre es der nun geschasste Ling gewesen. Mit seiner Degradierung aber verliert Hu an Einfluss über das Ende seiner Amtszeit hinaus. Einige Beobachter, wie der Hongkonger Analyst Jin Zhong, sehen das Staatsoberhaupt bereits am Ende. Im besten Fall endet damit auch die Ära notorischer Vertuschung und Kader-Protegierung - wenn auch nur gezwungermaßen.