Mail aus Mumbai Wo ist Jean Baptiste Talleu?

  • von Swantje Strieder
Sein letztes Lebenszeichens hinterließ er an einem Geldautomat in Mumbai, an dem er das dreifache eines indischen Monatslohns abhob. Seitdem ist Jean Baptiste Talleu verschwunden. Nun sucht seine Mutter nach ihm. Aber kaum jemand sagt ihr, wie schlecht die Chancen stehen, ihn wiederzufinden.

Madame Talleu sitzt so gefasst auf unserem Sofa wie es nur geht für eine Mutter, deren Sohn verschwunden ist. "Ah, fast wie in Goa", lobt die Französin die Aussicht auf die Palmen und den Indischen Ozean, obwohl der heute wieder ziemlich viel Dreck anspült. Nein, sie möchte ihren Kummer niemandem aufdrängen. Tee, Kaffee? Non, merci, ein Glas kaltes Wasser wäre fein.

Alle sind so nett und hilfsbereit

Alle in Mumbai seien so nett und hilfsbereit zu ihr, der französische Konsul, die indische Polizei und die vielen Journalisten. Madame Talleu streicht ihren knielangen Rock glatt. Eigentlich habe sie Angst vor Megastädten wie Mumbai, vor Armut, Lärm und Dreck, gibt die adrette Mitfünfzigerin mit Dutt und Gleitsichtbrille gerne zu. Daheim im südfranzösischen Nancy sei das Leben doch etwas ruhiger. Aber Marie Claire Talleu möchte die Stadt, aus der das letzte Lebenszeichen ihres Sohnes Jean-Baptiste, 26, stammt, in guter Erinnerung behalten, wenn sie heimfliegt.

"Vermisst: Jean Baptiste Talleu, französischer Radfahrer unterwegs durch Asien, letztes Lebenszeichen am 5. Dezember 2007 in Goregaon, Mumbai" steht auf dem Suchplakat, das Marie-Claire mir reicht. Auf dem Foto ist ein ernsthafter junger Mann mit Brille und dunklen, streng zurück gebundenen Haaren zu sehen. "Seit Mitte Juli ist Jean-Baptiste per Rad unterwegs", erzählt Marie Claire. Seinen Job als Graphiker hatte er gekündigt, er wollte einfach mal weit weg. "Die Mails, die er uns aus den Internetcafés von Italien, Kroatien, Albanien, Griechenland und der Türkei schickte, klangen so glücklich", sagt die Mutter von sieben erwachsenen Kindern, "auch im Iran, der mir so gefährlich erschien, haben sie ihn fabelhaft aufgenommen". Sie hat die vielen herzlichen Mails von Iranern später auf seinem Account gefunden.

Den Höchstbetrag abgehoben

Das letzte Mal habe Jean-Baptiste sie am 2. Dezember aus Dubai angerufen. "Den Winter verbringe ich in Indien", sagte er. Aber im Frühling wollte der Globetrotter bei seiner Schwester in Xang Xi, China sein, wo sie für eine Modefirma arbeitet. Zwei Tage später landete Jean-Baptiste mit Air India in Mumbai, soviel steht fest. Die Polizei hat ihr sein Einreise-Formular geschickt, "es war eindeutig seine Schrift". Am Morgen des 5. Dezember hob der junge Franzose erst 1000 Rupien, etwa 17 Euro, ab, "das war ein normaler Betrag für ihn", sagt Marie Claire. Dann am Abend um 18.39 Uhr zog er noch einmal 10.000 Rupien, rund 170 Euro, und damit den Höchstbetrag beim Bankomat der Axis Bank in Goregaon, einem gottverlassenen Vorort am Western Expressway, der Hauptverkehrsader Mumbais. Dort verliert sich jede Spur.

Was macht ein Globetrotter in dieser öden Gegend, wo es doch für Jugendliche so viel attraktivere Plätze im Zentrum Mumbais gibt, mit Hostels, Restaurants, Bars und Stränden? Frau Talleu zuckt die Achseln. Sie hat sich die Frage schon so oft gestellt. War ihr Sohn abhängig? Da blitzen ihre Augen auf, sie weiß, worauf ich hinaus will: "Keine Drogen, kein Alkohol, keine Krankheiten, Jean-Baptiste war ...", sie verbessert sich schnell, " ... er ist absolut clean". Aber warum soviel Geld, wundert auch sie sich. "Der Junge ist ja so bescheiden, er übernachtet ja fast immer in seinem Zelt." Im einem ungeschützten kleinen Zelt, etwa neben dem Highway?

Da gehen bei jedem Mumbai-Einwohner Alarmglocken an. Auf den Gehwegen und Banketten campieren nur die Allerärmsten, die vor Hunger und Elend auf dem Land geflohen sind. Nicht etwa "reiche" Europäer mit 10.000 Rupien, mehr als drei indischen Monatslöhnen in der Tasche und einem Sportrad Cannondale 5ETR8L Blue, das allein 1300 Euro wert ist! Sporträder sind für die allermeisten Inder ein unerschwingliches Luxusgut. Dass da für jeden kleinen Gangster die Versuchung groß ist, mag ich Frau Talleu kaum sagen.

Mumbai ist trotz all seiner sozialen Gegensätze eine sehr menschliche Stadt. Bei der Flutkatastrophe im Juli vor zwei Jahren haben die armen Leute die Reichen, die in ihren Limousinen weggeschwemmt wurden und fast ertrunken wären, in ihre erbärmlichen Hütten geholt und mit heißem Tee und Keksen versorgt. Auch Frau Talleu bekommt viele Hilfsangebote und niemand hat das Herz, einer Mutter zu sagen, wie schlecht die Chancen nach fünf Monaten erfolgloser Suche stehen. Gerade ist eine große Flugblattaktion angelaufen, die eine Belohnung von 200.000 Rupien, etwa 3500 Euro, für Hinweise auf Jean-Baptiste verspricht. Zum Abschied drückt mir Madame Talleu einen Stapel der frisch gedruckten Flugblätter in die Hand und dreht sich schnell weg, damit ich ihre nassen Augen nicht sehe.

In der Polizeikaserne weiß man nichts

Am nächsten Tag fahre ich mit einer französischen Journalistenkollegin nach Goregaon. Wir gehen zur winzigen Axis-Bank-Filiale, die einsam im Schatten der Betonbrücken des Western Expressway liegt. Es gibt eine Polizeikaserne in der Nähe, aber dort weiß man nichts. Wir gehen die vier steilen Stufen aus schwarzem Marmor zum Geldautomat hoch wie Jean-Baptiste, bevor sich seine Spur verlor.

Heute sitzt ein freundlicher Wachmann vor der Tür, damals will niemand etwas gesehen haben. Wir verteilen die Poster in Tri Nagar, einem Slum in Goregaon. Die Kinder kommen fröhlich angelaufen, nehmen uns an den Händen, führen uns in die Hütten ihrer Eltern und alle wollen ein Plakat in Hindi und Englisch, dabei kann hier kaum einer lesen. Die Jungen werden sich wohl bald einen Drachen aus dem guten Papier bauen. Nicht so schlecht. Vielleicht fliegt ja einer der Flugblattdrachen dorthin, wo doch jemand weiß, was am 5. Dezember geschah.