Europaparlament MeToo in Brüssel: Mitarbeitende beklagen eine "Treibjagd auf Frischfleisch"

Im Europaparlament fallen wichtige Entscheidungen – und häufig die Hemmungen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beklagen Machtmissbrauch und erzählen: "Es gibt Abgeordnete, vor denen Frauen einander warnen."
Collage zeigt Abgeordnete des EU-Parlaments in Brüssel bei einem Umtrunk
Crémant nach der Sitzung: Verschwimmen im Europaparlament oft die Grenzenzwischen Politik und Privatem?
© Collage: Belicta Castelbarco; Fotos: Shutterstock(4); Getty Images(2)

Es herrscht in der letzten Sitzungswoche des Europaparlaments in Straßburg eine Stimmung wie zum Ende einer Klassenfahrt. Vizepräsident Marc Angel, ein Sozialdemokrat aus Luxemburg, läuft über die Flure wie ein Herbergsvater und verteilt warme Abschiedsworte. Er spricht Abgeordneten Mut zu, portugiesischen Sozialisten, die vom neuen Parteichef von der Wahlliste gestrichen wurden, wie auch konservativen Hinterbänklern mit unsicheren Listenplätzen. Irgendwann beginnt Angel, gegen eine große Sorge anzureden, die hier viele umtreibt: Was, wenn die rechten Europafeinde bei der Wahl im Juni weiter Stimmen gewinnen und mehr Macht bekommen werden? "Die europäische Idee", sagt Marc Angel, "ist stärker als die populistische Versuchung von rechts."

Zwei Etagen tiefer im Parlamentsgebäude, es ist 16.30 Uhr, stehen mehr Flaschen mit Elsässer Crémant als Sektgläser auf den Tischen der "Bar des Cygnes". Für Abgeordnete gibt es dort eine "Fast Lane", in der gerade einige Liberale anstehen. Für den Abend hat einer der Fraktionsvorsitzenden der Grünen das gesamte Parlament zum Abschiedsumtrunk eingeladen. Und auf X kursiert gerade ein Foto von einem Kondom unter einem Cafétisch im Parlament. Eine Kommissionsmitarbeiterin schreibt: "What happens in the EP, stays in the EP." Was im Europaparlament passiert, bleibt auch dort.

"Genau das ist das Problem", sagt Alejandra Almarcha in der "Blümchenbar" im Souterrain des Parlaments. Sie ist Mitarbeiterin in der Partei der Europäischen Sozialdemokraten und hat vor einigen Wochen das Harassment Support Network mitgegründet, das gegen sexuelle Belästigung und Mobbing in EU-Institutionen kämpft. Schon jetzt haben sich mehr als 20 Mitarbeiterinnen, Assistentinnen und Praktikanten aus mehreren Fraktionen gemeldet, sie seien am Arbeitsplatz sexuell belästigt oder gemobbt worden.

Der stern und Correctiv haben wochenlang im Europaparlament recherchiert, ein Reporterteam hat in Brüssel und Straßburg mit Dutzenden Betroffenen und Expertinnen gesprochen. Die Recherchen ergeben das Bild eines Parlaments, in dem eine Kultur des Machtmissbrauchs und der sexuellen Belästigungen herrscht. Vor allem Frauen erzählen von unangenehmen Begegnungen in Fahrstühlen. Von älteren Parlamentariern auf der Pirsch nach "Frischfleisch". Und von Abgeordneten, die glauben, sich so gut wie alles erlauben zu können.

Elf bekannte Fälle 

Ein mittlerweile bekanntes Beispiel ist der Fall Malte Gallées. Der Grünen-Abgeordnete aus Bayern trat Anfang des Jahres zurück, als der stern recherchierte, dass mehrere Mitarbeiterinnen seiner Fraktion ihm sexuelle Belästigung und Mobbing vorgeworfen hatten. Vor wenigen Wochen zeigte eine Praktikantin den estländischen Abgeordneten Jaak Madison von der rechtspopulistischen Fraktion "Identität und Demokratie" an, er habe sie wiederholt sexuell belästigt. Madison streitet die Vorwürfe ab und behauptet, die Praktikantin sei schizophren. Der parteilose griechische Abgeordnete Alexis Georgoulis wartet in Belgien wegen der mutmaßlichen Vergewaltigung einer Kommissionsmitarbeiterin auf seinen Prozess. Und der rumänische Sozialdemokrat Mihai Tudose wurde vergangenes Jahr beschuldigt, eine parlamentarische Assistentin sexuell belästigt zu haben, auch er streitet die Vorwürfe ab.

Aus der aktuellen Legislaturperiode sind dem stern mindestens elf solcher Fälle bekannt. "Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen", sagt Alejandra Almarcha vom Harassment Support Network. Doch selbst die Fälle, die bekannt werden, blieben für die Politiker meist folgenlos. Auch wenn ein Gericht sie schuldig gesprochen habe, dürften sie ihre Mandate behalten, wenn die Rechtsprechung ihres Heimatlandes es zulässt. Es gärt deshalb in den Fraktionen. Betroffene fühlen sich im Stich gelassen, von ihren Parteispitzen und von den Entscheidern im Parlament.

Erschienen in stern 23/2024