Nach dem Sturz Gaddafis Amnesty fürchet einen Teufelskreis der Vergeltung

Auch wenn sich einige Gaddafi-Hochburgen noch gegen die neue Situation im Land stemmen: Zurück an die Macht wird der ehemalige Machthaber Libyens wohl nicht mehr gelangen. Doch die Zukunft des Landes ist ungewiss: Amnesty International fürchtet eine Spirale von Rache und Gewalt.

Nach dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International vor einer Spirale der Gewalt gewarnt. In Libyen nutzten auch die Gaddafi-Gegner das derzeitige Vakuum der Staatsmacht für Rache und Folter, erklärte Amnesty am Dienstag. Die Organisation forderte die aus der Rebellenbewegung hervorgegangene Übergangsregierung auf, Vergehen auf beiden Seiten des Konflikts zu ahnden. Der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats (NTC), Mustafa Abdel Dschalil, warnte Gaddafi-Kräfte vor Vergeltungstaten. Der NTC strebe einen Rechtsstaat an, dessen Gesetze überwiegend auf der islamischen Scharia beruhten, sagte Dschalil bei seiner ersten öffentlichen Rede in Tripolis.

Amnesty International brandmarkte in einem mehr als 100 Seiten umfassenden Bericht vor allem die Gaddafi-Kräfte. Sie seien in größerem Maße für Menschenrechtsverletzungen wie Angriffe auf Zivilisten verantwortlich, sagte Amnesty-Vertreter Claudio Cordone. Ein Team habe von Februar bis Ende Juli in Libyen Beweise dafür gesammelt, dass Gaddafis Soldaten willkürlich mit Raketen, Artillerie und Panzern auf ihre Landsleute geschossen hätten. Amnesty warf den Rebellen-Kämpfern vor, sie hätten Gaddafi-Anhänger und mutmaßliche Söldner entführt, willkürlich gefangengenommen, gefoltert und getötet. Zunächst habe es eine Reihe von Lynchmorden gegeben, später seien Bürgerwehren systematischer gegen die Gaddafi-Kräfte vorgegangen.

"Die Verantwortlichen für die grausamen Repressalien unter Gaddafi müssen zur Rechenschaft gezogen werden", sagte Cordone. Der NTC müsse aber nach denselben Standards beurteilt werden. "Andernfalls gibt es keine Gerechtigkeit, sondern es droht ein endloser Teufelskreis aus Vergehen und Vergeltung."

Scharia soll Grundlage libyscher Gesetzgebung werden

Der NTC-Vorsitzende Dschalil erklärte vor rund 10.000 Anhängern in der Hauptstadt, der Aufbau eines Rechtsstaates und des Wohlstands bedürfe vieler Voraussetzungen. Wichtigste Grundlage für die Gesetzgebung sei das islamische Recht der Scharia. Extremistische Ideologien würden aber nicht toleriert, betonte Dschalil. Er forderte die Anhänger des untergetauchten Gaddafi auf, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen.

Unterdessen gibt es neue Sorgen um zivile Opfer in den verbliebenen Kriegsschauplätzen. Kampftruppen des Übergangsrats stellten den verbliebenen Bewohnern in der belagerten Wüstenstadt Bani Walid ein Ultimatum. Bis zum Ansturm auf die Stadt blieben ihnen zwei Tage zur Flucht. Der Übergangsrat stößt in Bani Walid seit fünf Tagen auf unerwartet starken Widerstand Gaddafi-treuer Truppen. Die Stadt zählt mit Sirte und Sabha zu den verbliebenen Bastionen der Armee des alten Regimes.

Am Montag hatten Gaddafi-Kräfte 15 Wachleute einer Ölraffinerie getötet. Bei dem Angriff nahe der Küstenstadt Ras Lanuf wurde Augenzeugen zufolge die Anlage selbst nicht beschädigt. Die Attacke war offenbar ein Versuch der Gaddafi-Kräfte, die Suche nach dem gestürzten Herrscher zu torpedieren und die Ölproduktion des Landes zu behindern. Die Angreifer der Raffinerie kamen Arbeitern zufolge aus Richtung der verbliebenen Gaddafi-Bastion Sirte am Mittelmeer.

Wenige Stunden zuvor hatte der NTC angekündigt, ein Teil der seit März praktisch zum Stillstand gekommenen Ölproduktion sei wieder angefahren worden. In dem nordafrikanischen Land befinden sich die größten Rohölvorkommen des Kontinents. Unter Gaddafi gingen rund 85 Prozent der Exporte nach Europa. An einer Normalisierung der Produktion sind auch westliche Ölfirmen wie OMV aus Österreich interessiert.

Nach dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat nun auch die Weltbank den NTC in Libyen als legitime Regierung anerkannt. "Wir sind bereit, dem libyschen Volk zu helfen", teilte die Organisation am Dienstag mit. "Unsere Experten haben bereits angefangen, sich mit ihren Partnern abzusprechen und arbeiten daran, schnell die Arbeit aufzunehmen." Die Anfragen aus Libyen beträfen insbesondere die Wasser- und Energieversorgung sowie den Transportsektor. Der IWF hatte den Rat am Samstag anerkannt.

Reuters
jwi/Reuters