Massaker des 7. Oktober Israel will die Hamas vernichten – doch der Plan wird langfristig so nicht aufgehen

  • von Mary Abdelaziz-Ditzow
Palästinenser bergen eine junge Frau nach einem Angriff auf die Stadt in Khan Yunis im Süden des Gazastreifens
Palästinenser bergen eine junge Frau nach einem Angriff auf die Stadt in Khan Yunis im Süden des Gazastreifens
© Getty Images
Nach dem Massaker der Hamas hat Israel das Recht sich zu verteidigen, auch Krieg zu führen. Doch es ist fraglich, ob Israels Kriegsführung in Gaza das Land sicherer macht – oder die Lage langfristig gefährlicher.

Seit zwei Monaten, seit Israels Armee als Antwort auf das Massaker der Terrororganisation Hamas Gaza angreift, richten sich große Teile der Weltgemeinschaft mit zwei eng miteinander verwobenen Forderungen an die Konfliktparteien in Gaza: Gefordert wird von der Hamas die sofortige Freilassung der Geiseln – und von Israel das Einhalten des Völkerrechts mit Blick auf den Militäreinsatz im Gazastreifen. Das Problem dabei: Israel knüpft ein Ende seiner Angriffe unmittelbar an die Freilassung aller Geiseln – und diese Rechnung geht seit rund zwei Monaten nicht auf. Immer mehr stellt sich die Frage, ob Israels aktuelle Strategie den Geiseln tatsächlich hilft.

Der Wunsch der israelischen Bevölkerung, die Geiseln endlich frei zu sehen, ist auf jeder Ebene nachvollziehbar. Es braucht nicht viel Empathie, um sich vorzustellen, was die Angehörigen der Geiseln und die Gefangenen selbst an Leid ertragen müssen. Der Terroranschlag der Hamas und die Entführung der Geiseln ist mit nichts zu rechtfertigen.

Ebenso nicht zu rechtfertigen ist aus Sicht immer größerer Teile der Welt, gerade im Globalen Süden, allerdings der Tod tausender unschuldiger Zivilisten in Gaza. Seit ein paar Tagen hat sich die israelische Militäroffensive im Gazastreifen auch auf den Süden des Gebietes ausgeweitet. Dorthin, wo palästinensische Zivilisten zu Hunderttausenden vom Norden aus geflüchtet sind, um sich in vermeintliche Sicherheitszonen zu begeben. Spätestens jetzt ist auch hier niemand mehr sicher. Damit erreicht die Lage im Gazastreifen eine neue Eskalationsstufe.

Nutzt der Westen seinen Einfluss auf Israel – oder resigniert er?

Nach dem Abbruch der Waffenruhe und den immer dramatischeren Zuständen im Gazastreifen, steht der Krieg an einer entscheidenden psychologischen Schwelle: Entweder werden einflussreiche Staaten dieser Welt Israel dazu veranlassen können, anders militärisch vorzugehen. Oder die Aufrufe nach Verhältnismäßigkeit werden zunehmend schwächer werden – bis große Teile der Weltgemeinschaft letztlich resignieren.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir gewöhnen uns an nahezu alles in unserem Leben. Auch an die Darstellung von Leid und Schmerz, das anderen widerfährt. Können wir an dem Zustand nichts verändern, fangen viele von uns aus Selbstschutz an zu resignieren. Was uns von der Resignation, vom Desinteresse abhält, sind immer neue Szenarien und Teilaspekte, neue Bilder auch, die unsere Aufmerksamkeit hochhalten. Auf die aktuelle Lage im Gazastreifen bezogen sind solche "neuen" Nachrichten in erschreckender Weise allerdings bald Mangelware.

Denn die grausamen Details der Lage wurden der Weltgemeinschaft bereits wochenlang eindringlich beschrieben und bildlich vor Augen geführt: Tausende unbeteiligte Kinder, Mütter und Väter, die unter den Trümmern begraben sind. Uralte Frauen, die sich zu Fuß auf den Weg von Norden nach Süden machen, um irgendwie zu überleben. Babys, die in Krankenhäusern nicht mehr versorgt werden können. 

Arabische Sender wie "Al Jazeera" übertragen all diese Szenen unzensiert und live seit Wochen im Fernsehen. Auch dadurch, und durch die so ausgelösten Proteste, ist der Druck auf westliche politische Eliten gestiegen, sich gegenüber Israel klarer zur Einhaltung des Völkerrechts zu positionieren: Sowohl der Ton des französischen Staatspräsidenten Macron wie auch die Haltung von US-Präsident Joe Biden haben sich in den letzten Wochen verschärft. Ja, die Macht der Bilder ist stark, das zeigt sich hier. Doch stärker als die Macht der Gewohnheit? Das hängt davon ab.

Die Ausweitung des Einsatzes der israelischen Armee auf den Süden des Gazastreifens könnte allerdings die Kritik noch lauter werden lassen. Unicef bezeichnet den Gazastreifen bereits jetzt als gefährlichsten Ort der Welt für Kinder. Die WHO appelliert eindringlich an Israel, die Zivilisten stärker zu schützen. Menschenrechtler, Journalisten und Palästinenser vor Ort berichten täglich von unsicheren Zuständen im Süden und von zunehmender Alternativlosigkeit, einen sicheren Ort zu finden. Werden diese Hilferufe etwas bewirken?

Nahost-Konflikt: Die USA suchen eine neue Haltung

Erste Anzeichen einer neuen Haltung gegenüber Israel ließen sich zuletzt bei US-Präsident Joe Biden an anderer Stelle beobachten: Aufgrund der Übergriffe gewalttätiger Israelis auf Palästinenser im Westjordanland wollen die USA die Einreise israelischer Extremisten beschränken. 

Es wäre das erste Mal, dass von Seiten der USA nach kritischen Worten gegenüber Israel auch handfeste Taten folgen. Die USA sind Israels wichtigster Unterstützer und gleichzeitig das Land, in dem mehr Juden leben als in Israel selbst. Wenn hier die allgemeine Unterstützung für Israel bröckelt, was sich zuletzt auch an den blockierten Israel-Hilfen im US-Senat zeigt, dann könnte das Konsequenzen haben. Erste Effekte lassen sich bereits hierzulande beobachten: Deutschland würde die Einreisebeschränkungen für extremistische Siedler laut eines Sprechers des Auswärtigen Amtes gerne auf die Europäische Union ausweiten.

Uno-Generalsekretär António Guterres wiederum wandte sich Mittwoch an den Sicherheitsrat. Er berief sich auf den kaum bislang gebrauchten Artikel 99 der Uno-Charta, der ihm erlaubt, "auf jede Angelegenheit hinzuweisen, die seiner Meinung nach die Gewährleistung von internationalem Frieden und Sicherheit gefährden kann". Dieser Schritt ist zwar nicht rechtsbindend, aber dennoch historisch. Dass der Sicherheitsrat sich in den folgenden Tagen mindestens dazu berät, ist zu erwarten. Einem kollektiven Widerstand kommt all das nicht gleich. Hierfür bräuchte es mindestens eine weitere bindende UN-Resolution mit ausformulierten Sanktionen bei Nicht-Einhaltung der Forderungen. Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten.

Klar scheint allerdings: Einen dauerhaften Schutz des israelischen Volkes kann Israel mit seiner derzeitigen Vorgehensweise nicht herbei kämpfen, im Gegenteil: Die Kinder in Gaza, die den aktuellen Krieg überleben werden, sind wohl zum großen Teil für ihr Leben traumatisiert. Sie wachsen auf mit Schmerz, Leid und Wut in ihren Herzen. Der Nährboden für weitere Terrororganisationen wird in diesen Tagen in Gaza und im arabischen Raum geschaffen. Die Infrastruktur der Hamas mag zerstörbar sein, doch die Ideologie von Terrorismus wird aktuell immens gestärkt. Diese traurige Gewissheit hilft weder Juden, noch Palästinensern. Beide Völker haben ein Leben in Frieden und in Würde verdient.