Nahost-Tagebuch (3. Teil) Eine Reise in den Krieg

Layla al Zubaidi besucht in Amman einen Filmkurs, als der Krieg in ihrer Wahlheimat Beirut losbricht. Trotzdem macht sie sich auf den Weg in den Libanon. Für stern.de hat sie darüber Tagebuch geführt. Dritter und letzter Teil

Ich komme Zuhause an. Niemand ist da, es gibt keinen Strom. Ich rufe Muzna, meine Mitbewohnerin an. "Von wo aus rufst du an?" "Von Zuhause." "Du machst Witze." Sie ist in einer Konferenz mit Aktivisten im Zico House, einem Zentrum für alternative Kultur, in dem auch viele Nichtregierungsorganisationen ihre Büros haben: angefangen bei Umweltorganisationen bis hin zur einzigen Organisation für Lesben und Schwule im Nahen Osten. Ich komme zu ihnen. Manche sammeln Lebensmittel, Medikamente, Kleidung. Andere sitzen im Gartencafé, unterhalten sich angestrengt, diskutieren, schreiben Texte für die vielen Blogs über den Krieg, um den Außenseitern draußen Insidergeschichten zu erzählen.

Muzna hat Interviews mit Flüchtlingen geführt, um ausländische Nachrichtenstationen mit Aussagen zu versorgen. Sie wurden von Beirut DC gefilmt, einer Organisation, die das arabische Kino fördert. Wir fahren dorthin und sie zeigen uns den Videoclip, den sie fürs Fernsehen gefertigt haben. Er heißt "samidoun". "Sumoud" ist ein sehr bekanntes Wort aus Palästina. Es bedeutet Standhaftigkeit. Wenn Leute sich selbst "samidoun" nennen, bedeutet das, dass sie bleiben. Dass nichts und niemand sie dazu bringen kann zu gehen. Ich lasse sie alleine, damit ich meine E-Mails checken und ich einigen Leuten sagen kann, dass ich zurück bin. Bomben gehen auf den Hafen nieder.

"Das Bombardement hört sich nur nah an"

In der Nacht treffen wir uns wieder im Baromètre. Von dort können wir das Bombardement der Vororte hören. Eine Explosion hört sich an, als ob sie um die Ecke passiert wäre. Ein Mädchen an einem Tisch springt auf und dreht sich in Panik um sich selbst. Muzna tröstet mich. "Es hört sich nur nahe an, weil das eine Rakete war, die von einem Kriegsschiff abgefeuert wurde. Nach einer Weile wirst du die Geräusche unterscheiden können."

Einige dieser Kriegsgeräusche sind noch in meinen Erinnerungen an Palästina eingegraben. Das dumpfe Geräusch von F-16 Fliegern, die in den USA gebaut wurden, das knatternde Geräusch von Gewehrsalven. Das Motogeräusch von unbemannten Dronen, die nachts jeden Winkel von oben fotografierten. Manche der Raketen, deren Namen ich nicht kannte, sahen aus wie Sternschnuppen, kleine Lichter die in einem kleinen Bogen herunterfallen und dann mit massiver Wucht einschlagen. Wenn man noch über sich sah, rannte man instinktiv los, um sich zu schützen. Nur wohin?

Layla al Zubaidi

33, wurde in Heidelberg geboren, hat Ethnologie in Berlin studiert und arbeitet seit fünf Jahren für eine deutsche Institution der Entwicklungszusammenarbeit - zunächst in den palästinensischen Gebieten und derzeit im Libanon.

Wenn sie eintreffen, blieb das Herz eine Sekunde lang stehen. Und das Gehirn spuckt automatisch den Satz aus: "Wir werden alle sterben." Ein irrationaler Gedanke, denn meistens war ich in sicherer Entfernung. Aber mein Gehirn wiederholt diese fixe Idee ständig und ich bin nicht in der Lage es zu kontrollieren. Diskussionen über die Situation: Verärgerung über die westlichen Medien, die sich unisono hinter Israel stellen, Kritik an der Hisbollah wird laut. Ein Freund von uns, der sich gerade in Paris aufhält ruft an und bietet seine Wohnung an, falls Leute in Not sind.

Sanayeh, der zentrale Park Beiruts, ist voll mit Menschen - falls Leute in Not sind. Es wurde ihnen gesagt, dass sie hier abgeholt werden und in Schulen untergebracht würden, wo sie Zugang zu sanitären Anlagen hätten. Seit mehreren Tagen und Nächten schlafen sie im Gras, sind der Hitze und der unerträglichen Feuchtigkeit des Tages ausgesetzt - ohne Wasser, ohne Versorgung, ohne irgendjemanden, der sie abholen kommt.

Wir fahren spät in der Nacht nach Hause. Unsere Wohnung ist ein Flüchtlingslager geworden. Mariam, ein Mädchen aus Tyre im Süden ist hier, sie hat keine Möglichkeit nach Hause zurückzukehren. Und Ismail, ein Palästinenser aus dem Flüchtlingslager bei Bourj al Barajneh. Was für ein Horror muss das sein für die hunderten von palästinensischen Flüchtlingen, die seit 60 Jahren im Libanon leben, ihrer elementarsten Rechte beraubt, sich in einem temporären Zustand des ewigen Wartens befindend. Sie können sich jetzt nicht einmal in dem Land sicher fühlen, das ihnen Zuflucht gewährt hat.

Mariam und Ismail sind nicht tatenlos. Beide nutzen die Zeit in Beirut, um Hilfsaktionen auszuführen. Als wir die Tür öffnen, springt Mariam auf. Ihre Familie ist nach al Hosh geflohen, einem Viertel in Tyre, das in den letzten Tagen massiv bombardiert wurde. Sie ist verzweifelt. Sie kann ihre Angehörigen telefonisch nicht erreichen. Muzna versucht sie zu trösten. Wir trinken Tee und schauen die Nachrichten. Wir bleiben auf bis fünf Uhr morgens, weil niemand schlafen kann.

Die Hisbollah hat ein israelisches Krankenhaus bombardiert. Was wird die israelische Armee jetzt tun? Ein BBC-Reporter spricht mit einer Familie, die mit einem Auto aus dem Süden flieht. Der Mann schreit wütend "Dies ist nicht gerecht! Dies hier sind unschuldige Leute!" Der Reporter fragt ihn, was er denn über die Raketen denke, die in die andere Richtung fliegen. Der Mann schreit zurück "Na und? Warum müssen wir für die Verbrechen anderer bezahlen?" Es wird geschätzt, dass mittlerweile 60.000 Menschen im Libanon auf der Flucht sind. Heute sind wieder 47 gestorben. Aber was ist mit den Überlebenden? Was ist mit den tausenden, die für den Rest ihres Lebens blind, taub oder behindert sein werden.

Was ist mit den Kindern, die aufwachsen und für immer traumatisiert sein werden, die nie wieder sprechen oder spielen, die nie wieder ohne Alpträume schlafen können? Was ist mit denen, die ihre Häuser, ihr Land, ihre Arbeit verloren haben. Deren Leben in die Hände von Hilfsorganisationen, Waisenhäusern und Grenzkontrolleuren gelegt werden? Was geschieht mit einer Bevölkerung, die noch immer nicht den blutigsten Bürgerkrieg unserer Zeit verarbeitet hat? Die immer noch nach der Wahrheit über Massaker und Massengräber sucht. Die immer noch nach den Entführten und Getöteten sucht. Die immer noch versucht, aus Ruinen Häuser zu machen.

Ja, die Libanesen sind Krieg gewohnt. Genau wie die Palästinenser und die Iraker. Aber was bedeutet das? Es bedeutet ganz sicher nicht, dass diese Leute den Verlust ihrer Geliebten nicht betrauern. Ich glaube nicht, dass überhaupt irgendjemand sich an Krieg gewöhnen kann. Man kann lernen, damit umzugehen, welche Orte man meiden, welche Straßen man nehmen sollte. Aber sich an den Tod gewöhnen?

Im Gegenteil: Menschen, die den Krieg kennen gelernt haben, haben sogar noch mehr Angst, denn sie wissen, das Kugeln wirklich töten, dass Granatsplitter jemanden wirklich für sein Leben behindern, dass Blut wirkliches Blut ist und kein Ketchup. Statistiken belegen, dass der Libanon weltweit die höchsten Raten an Depressivität und Stress-Syndromen aufweist. Und je mehr deine Würde verletzt wird, desto mehr hältst du am täglichen Leben fest. Eine libanesische Frau schreibt in einem Blog, dass sie mitten in diesem ganzen Chaos an einer roten Ampel angehalten hat. Weil es ihr eine gewisse Würde und die Illusion eines normalen Lebens gab.

Beirut, 18. Juli 2006
In der Nacht wurden viele Ausländer evakuiert, zusammen mit den Israelis. Die französische Regierung hat eine Fähre geschickt, die die geschätzten 17.000 Franzosen und andere EU-Mitglieder aus dem Land bringen soll, sie soll um Mitternacht ablegen. Doch plötzlich bekommt das Schiff den Befehl, schon um 21 Uhr in See zu stechen, denn sonst könne man nicht mehr für Sicherheit garantieren. Der Kapitän entscheidet sich abzulegen. Die Hälfte der Leute ist noch nicht an Bord, manche, sind bereits auf dem Schiff, aber ihr Gepäck ihr Pass ist noch an Land.

Am Morgen treffe ich den Hausmeister unseres Nachbarhauses. Unserer, ein Kurde aus dem Norden Syriens, ist bereits mit seine Familie abgereist. Er sagt, solange die Ausländer hier gewesen seien, habe er sich ziemlich sicher gefühlt. "Aber jetzt, wo sie uns verlassen, habe ich wirklich Angst. Es bedeutet, dass die Israelis jetzt alles bombardieren können, was sie wollen."

Ich gehe, um noch mal meine E-Mails zu checken und um das Internet nach den neuesten Nachrichten zu durchforsten. Ich frage mich, wie die Leute von Kriegen erfahren haben, als es noch keine Massenmedien gab. Wie wusste man was wo los war? Heute sitzen wir in unseren Wohnzimmern uns sehen uns im Fernsehen an, was nur wenige hundert Meter entfernt passiert.

Hunderte von E-Mails, die mich fragen, wie es mir geht. Der Fotograf ruft an, er ist in Tyre: "Es ist ein komplettes Chaos hier unten." Ich treffe auf die Direktorin einer unserer Partnerorganisationen. Sie war am Sanyeh Park vorbei gekommen, wo sie Kinder gesehen hatte, die tagelang ohne Essen auskommen mussten. "Was sollen wir ihnen bloß sagen", fragt sie mich. "Dass Nasrallah ihre Würde schützt? Wie kann er es wagen, das ganze Land als Lösegeld zu beanspruchen und uns dabei vom Paradies zu erzählen? Und wie können uns die Israelis weismachen, sie würden uns einen Gefallen tun, indem sie versuchen Hisbollah vom Erdboden zu tilgen? Wieso können sie sie nicht einfach in ein anderes Land ausweisen, wie sie es mit der PLO gemacht haben? Hisbollah ist libanesisch, genauso wie ihre Anhänger. Wollen sie etwa ein Drittel der Bevölkerung töten?

Sie versuchen uns zu einem Aufstand gegen die Hisbollah zu bewegen - aber ein weiterer Bürgerkrieg ist das Letzte was wir wollen." Ich habe mein ganzes Leben lang gegen Fundamentalismus gekämpft. Gegen christlichen Fundamentalismus. Gegen islamischen Fundamentalismus. Gegen amerikanischen Fundamentalismus. Jetzt ruinieren sie unsere Leben innerhalb von nur einer Woche. Alles, was wir aufgebaut haben, ist wieder zerstört. Wir wollen weder unter der Hegemonie der Israelis noch unter der der Hisbollah leben. Das einzige was wir tun können ist zu versuchen, einigen Leuten zu helfen und zu unserer Regierung zu stehen. Und wenn beide verlieren, wird das Abschlachten nie ein Ende haben. Das bedeutet, dass wir verloren sind.

Beirut, 19. Juli 2006


Heute ist der bisher blutigste Tag des Krieges. 57 Zivilisten wurden getötet. Bereits eine halbe Million Menschen wurde vertrieben.

Was wird jetzt passieren? Wird es besser oder schlechter werden? Israel scheint sich gegen jegliche UN-Resolution zu sträuben; die Hisbollah will die Soldaten nicht freilassen. Bush sagt, dass Israel das Recht auf Sicherheit und Selbstverteidigung hat. Was ist mit dem Recht der Palästinenser und Libanesen auf Sicherheit und Selbstverteidigung? Olmert sagt, dass Israel nicht auf der Suche nach einem Krieg mit dem Libanon ist, aber es wird auch nicht davor zurückschrecken. Aber wer ist es denn, der Bomben und Granaten auf Zivilisten wirft, um zwei Soldaten zu befreien? Nasrallah verspricht Israel noch mehr Überraschungen. Wäre es nicht fair, die libanesische Bevölkerung darüber zu informieren, dass er diese Überraschungen mit ihrem Leben bezahlt? Dies sind die Männer, die, mit einigen anderen, über das Leben von Millionen von Menschen in dieser Region entscheiden. Im Zeitalter der Aufklärung und der Menschenrechte.

Ich muss zugeben, dass ich sehr viel Angst habe. Vielleicht wird die Situation sich in ein paar Tagen oder Wochen beruhigen und vielleicht wird wenigstens das Töten ein Ende haben. Und dann - was?

Layla al Zubaidi