Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat Neuwahlen als Reaktion auf die Protestwelle im Land ausgeschlossen. "Es gibt keinen Grund für vorgezogene Wahlen. Regierung, Parlament und Kabinett arbeiten wie ein Uhrwerk", sagte Parteisprecher Hüseyin Celik vor Fernsehkameras in Istanbul nach einem Treffen der AKP-Spitze. Der Vorsitzende der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP, Devlet Bahceli, hatte Neuwahlen gefordert. Ein Ende der Demonstrationen war nicht abzusehen.
Die Gewalt ebbte zunächst aber ab, nachdem sich die Polizei an einigen Brennpunkten zurückhielt. Zusammenstöße wurden in der Nacht zum Samstag erneut aus dem Istanbuler Stadtteil Sultangazi gemeldet. Die Polizei rückte mit Tränengas und Wasserwerfern an, um Barrikaden zu räumen - Protestierer warfen Brandsätze und Feuerwerkskörper.
Polizei verhaftet Twitter-Nutzer
Unterdessen nahm die Polizei in der südlichen Provinz Adana erneut mindestens fünf Nutzer des Kurznachrichtendienstes Twitter fest, denen Verbreitung von Desinformation vorgeworfen wurde. Nach sieben weiteren Beschuldigten werde gesucht.
MHP-Vorsitzender Bahceli war vor einigen Tagen auf den Protestzug aufgesprungen. Er sagte am Samstag, Erdogan habe die Krise im Land mit seinen Äußerungen verschärft. Er müsse nun sein Mandat erneuern.
"Bewährungsprobe für die türkische Regierung"
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief den türkischen Ministerpräsidenten zur Achtung der Bürgerrechte auf. "Das ist eine Bewährungsprobe für die türkische Regierung, Europa und der Welt zu zeigen, dass die Herrschaft des Rechts und die Freiheitsrechte ihr etwas gelten", sagte Westerwelle der "Welt am Sonntag". Insbesondere Erdogan sieht der Außenminister angesichts der "Überreaktionen der Polizei" dabei in der Pflicht. "Ministerpräsident Erdogan hat eine besondere Verantwortung, die Lage zu beruhigen. Dieser Verantwortung muss er sich bewusst sein", sagte Westerwelle.
International ist die türkische Regierung in den vergangenen Tagen zunehmend in die Kritik geraten. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle hatte Ankara am Vortag aufgerufen, die Verantwortlichen für unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen Demonstranten zu bestrafen und Grundrechte zu schützen. Erdogan wehrte sich bei einer Konferenz in Istanbul vor zahlreichen ausländischen Gästen heftig. Er behauptete zudem, beim Vorgehen gegen "Occupy Wallstreet"-Proteste in den USA seien 17 Menschen getötet worden. Die US-Botschaft in Ankara wies das als falsch zurück.
Gruppen der Protestbewegung waren weiter auf den Straßen unterwegs. In Istanbul strömten Tausende Fußballfans zum Taksim- Platz. Die Protestwelle hat sich an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park am Randes des Istanbuler Taksim-Platzes entzündet. Inzwischen richten sich die Demonstrationen vor allem gegen den als immer autoritärer empfundenen Kurs Erdogans und seiner islamisch-konservativen Partei.