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Simon Kremer - Lost in Nahost Gooooooooooooal – warum mir Bela Rethy manchmal fehlt

Fußballfans in der arabischen Welt
Fußball in arabischen Welt ist eine Sache für sich. Die Begeisterungsfähigkeit der Kommentatoren ist es auch
© Matthew Ashton / Getty Images
Fußball im Fernsehen – das ist schon mit deutschen Kommentatoren oft so eine Sache. Sie sollten sich ein Beispiel nehmen an den Emotionen anderer Nationen, heißt es. Das ist nicht wirklich eine gute Idee. Denn wer will schon mit Dauerherzrasen Fußball gucken?
Von Simon Kremer, Tunis

Das Gooooooooooooooooooooooooooooal des Kommentators klingt noch nach, da läuft das Spiel schon wieder. Natürlich war das ein schönes Tor, das Joshua Kimmich da gerade Hugo Lloris reingeballert, ach sagen wir besser: reingestreichelt, hat, aber muss man deswegen gleich einen Herzinfarkt kriegen? Ja, gut, es war das 1:1 der Bayern gegen Tottenham, aber hey, es ist immer noch das zweite Spiel der Gruppenphase. Also: piano. Oder Streicher. Aber bitte nicht so auf die Pauke hauen. Wer hätte auch ahnen können, dass die Bayern die Londoner mit 7:2 aus ihrem eigenen Stadion fegen?

Ich jedenfalls nicht, vielleicht habe ich deswegen die zweite Halbzeit auch nicht mehr gesehen, und vermutlich hätte ich spätestens beim 3:1 abgeschaltet. Die komplette zweite Halbzeit muss mit den Goooooooooooooooooal-Rufen des Kommentators unterlegt gewesen sein.

Manchmal fehlt mir beim Fußballgucken Bela Rethy. Und vermutlich gibt es jetzt einen ähnlichen Shitstorm, wie Rethy sie nach seinen Spielen immer erleben muss. Denn an dem Mann scheiden sich ja die Geister. Aber nach drei Jahren mit arabischen Fußballkommentatoren muss ich mal wirklich eine Eckfahne für die Kommentatoren im deutschen Fernsehen brechen. Denn das Problem ist: Ich gucke verdammt viel Fußball.

Simon Kremer

Simon Kremer: Ein wenig Lost in Nahost

Simon Kremer erkundete erst die Wälder des heimatlichen Sauerlandes, später die Wüsten der Arabischen Welt. Hat sich seine Naivität bis heute bewahrt und hätte deswegen beinahe mal für die syrische Militärmannschaft Fußball gespielt. Ist deswegen auch mal im arabischen Gewand durch die Sächsische Schweiz gelaufen. Kurz darauf gründete sich Pegida. Lebt jetzt mit Frau und Tochter in Tunesien und reist als Journalist durch den Nahen Osten. Musste da auf dem Fußballplatz und im Kreißsaal feststellen, dass man sich sehr schnell sehr fremd fühlen kann.

Aber muss man ein Fußballspiel wirklich mit einem ständigen Puls von 180 kommentieren, als fiele gerade in der dritten Minute der Nachspielzeit der Ausgleich – obwohl der Ball beim souveränen 3:0 an der Mittellinie hin und hergeschoben wird? Und, ja, lieber Kommentator, ich habe schon beim vierten Mal verstanden, dass Coutinho den Ball führt. Als könnte ein agiler Kommentator eine Partie Wolfsburg gegen Leipzig irgendwie spannend machen ...

Fußballgucken in der arabischen Welt ist eine Sache für sich

Fußballgucken in der arabischen Welt ist eine Sache für sich. In den Straßencafés läuft immer Real Madrid. Ok, seit dieser Saison Juventus Turin. Wegen Ronaldo. Über den Bildschirm läuft ein Wasserzeichen wie der quadratische weiße Ball im alten Computerspiel Pong. Es prallt an den Kanten ab und läuft weiter, seit ein Piratensender das Fernsehsignal des katarischen Senders BeinSports - der die Rechte in der arabischen Welt hält - gekapert hat. Und manchmal ist es wie in den Stadien selbst: Das Spiel läuft schon, aber die Fans stehen noch im Stau oder die Kommentatoren reden noch im Studio, und da muss die Kamera dann ja dabei sein.

Nach der Fußball-WM 2014 haben sich zwei Filmautoren mal angeschaut, warum die deutschen Fußballkommentatoren bei den Zuschauern so schlecht wegkommen. Das unfassbare 7:1 der Deutschen gegen Brasilien klang bei Bela Rethy so: "Maicon. Gewinnt das Duell gegen Özil. Fred. Schweinsteiger. Ganz cool. Gegen Oscar. Kampfbetontes, aber anständiges Spiel bisher. Keine Nickeligkeiten. Toni Kroos. Khedira. Rechts ist Müller. Guter Defensiv-Zweikampf von Marcelo und ein Foul von Thomas Müller." Okay, okay, wenn man es so liest, ist Fußball echt ein langweiliger Sport. Aber Fußball ist auch: eine großartige Erzählung. Ein Gut gegen Böse, ein Kampf um den Sieg. Eine Geschichte mit unvorhersehbaren Wendungen, wie sie nicht mal "Game of Thrones" hinbekommt. Und in der Regel leben am Ende auch noch alle 22 Spieler. 

"Unvermittelt fühlt man sich an trostlose, auf persönliche oder soziale Realität bedachte deutsche Filme erinnert, die von außen auf Menschen und ihre Probleme schauen und sich in minutiösen Alltagsbanalitäten verlieren. Immer rein beobachtend, niemals überhöhend und schon gar nicht wertend", schreiben die Filmautoren in ihrer Analyse. Das mag sein. Aber manchmal möchte ich mit Bela Rethy auf der Couch sitzen und ganz in Ruhe ein Spiel gucken. Und wenn es dann noch so einen Helden wie Gnabry gibt, läuft die Story auch ohne Erzähler.

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