Frau Gyanatshang, Ihr Bruder wurde in Peking verhaftet. Was genau ist passiert?
Mein Bruder hat mit zwei Mitstreitern für Tibet demonstriert. In der Nähe des Olympischen Stadions haben sie Donnerstagnacht eine tibetische Fahne gehisst, "Free Tibet" skandiert und ihre Fäuste in den Himmel gereckt. Sie wurden, so weit ich gehört habe, schon davor von rund 50 Polizisten in Zivil verfolgt. Nach wenigen Sekunden des Protestes wurden mein Bruder und seine Kameraden von diesen Polizisten überwältig und verhaftet. Wie ich erfahren habe, war es auch höchste Zeit für die Aktion, denn die drei Männer wurden seit Tagen von den chinesischen Sicherheitsbehörden observiert. Es bestand also die Gefahr, dass sie festgenommen werden, bevor sie ihren Plan ausführen Konnten
Konnten Sie danach mit Ihrem Bruder sprechen?
Nein, leider nicht, nur die Botschaft hat Kontakt mit ihm. Natürlich mache ich mir große Sorgen. Ich denke aber, dass er nicht verletzt wurde.
Familie Gyanatshang
Der 30-jährige Florian Norbu Gyanatshang, dessen Vater Tibeter und dessen Mutter Deutsche ist, wurde in Deutschland geboren und lebt in Stuttgart. Er arbeitet als Software-Entwickler und ist Leiter der deutschen Gruppe des Vereins "Tibeter Jugend Europa". Seine Eltern leben am Bodensee, sein Vater, seit 1957 in Deutschland, war ein Jahr lang Übersetzer des Dalai Lama. Seine Schwester Yuldon ist 27 Jahre alt und studiert in Karlsruhe.
Wie geht es jetzt weiter?
Was ihm konkret vorgeworfen wird, weiß ich nicht. Er soll wohl für zehn Tage inhaftiert bleiben, sagte mir heute die Botschaft.
Wie lange war diese Aktion geplant?
Seit einiger Zeit. Ich habe davon vor rund zwei Monaten erfahren. Er hat sich extra Urlaub genommen. Vor einer Woche ist er nach Peking gereist. Ich war sehr überrascht, dass er überhaupt reingelassen wurde. Das hatte ich nicht erwartet.
Warum?
Er ist zwar deutscher Staatsangehöriger, hat aber einen tibetischen Nachnamen. Wir haben von vielen Tibetern erfahren, dass sie nicht nach China einreisen durften. Zudem ist mein Bruder auch der Leiter der deutschen Sektion des Vereins "Tibeter Jugend Europa", ist also jemand, der sich öffentlich für die Belange Tibets einsetzt.
Es war also seine erste Reise nach Peking?
Ja. Wir waren auch noch nie in Tibet. Vergangenen Herbst wollten wir zusammen in das Land, aber uns wurde die Einreise verweigert. Und das ohne Begründung. Ich habe jedoch gehört, dass im Vorfeld der Olympischen Spiele sowieso keine Tibeter aus dem Ausland einreisen durften.
Hätten Sie ihren Bruder gerne in Peking unterstützt?
Nein, es war nie geplant, dass ich an der Protestaktion teilnehme. Ich will meine Eltern nicht überlasten. Dass ihr Sohn verhaftet wurde, ist schon Aufregung genug für sie. Zudem ist mein Bruder ein sehr mutiger Mann, der sehr geradlinig ist. Er ist dem hohen Druck, der jetzt auf ihm lastet, wesentlich besser gewachsen als ich. Er wusste auch, was ihn in Peking erwartet. Außerdem wäre ein tibetisches Geschwisterpärchen in Peking sehr aufgefallen. Ich habe angefangen hier Mahnwachen zu organisieren um meinen Bruder sozusagen aus Deutschland zu unterstützen. Denn ich unterstütze es sehr, was mein Bruder getan hat und bin stolz auf ihn. Ich finde es mutig, dass er Zivilcourage gezeigt hat. Es ging in den vergangenen Tagen nur um Doping und Medaillen, aber die ganze Menschenrechtssituation in Tibet wurde völlig vergessen.
Was halten Sie von den Olympischen Spielen?
Ich gönne den Sportlern dieses Sportfest vom ganzen Herzen und gönne es auch dem chinesischen Volk. Aber ich denke, dass die Spiele eine große Propagandaveranstaltung der chinesischen Regierung ist. Sie sagt zwar immer, dass die Spiele nicht politisiert werden sollen, aber dann soll sie die Propaganda ebenfalls unterlassen.
Und was erhoffen Sie sich von den Protesten?
Sie bringen Aufmerksamkeit für die Lage in Tibet. Die Tibeter selber können während der Spiele nicht in Peking demonstrieren. Deshalb ist es wichtig, dass jemand für sie die Stimme erhebt. Wir hören immer wieder, dass es weitere Proteste in Tibet gegen die chinesische Regierung gibt. Die werden aber offenbar sehr brutal niedergeschlagen. Es gibt viele Familien, die nicht wissen, was mit ihren verhafteten Angehörigen passiert ist. Ein Westler wie mein Bruder kann aber mit relativ absehbareren Folgen protestieren.
Was glauben Sie, was mit Ihrem Bruder passiert?
Ich vermute, dass er nach den zehn Tagen Haft abgeschoben wird. Eigentlich wurden Protestanten bisher sofort abgeschoben, deshalb überrascht mich, dass mein Bruder überhaupt festgenommen wurde. Aber er wird bessere Haftbedingungen haben als jeder Tibeter. Deshalb hoffe ich einfach, dass es ihm gut geht, auch weil die deutsche Botschaft ein Auge auf ihn hat.