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Ein Land am Scheideweg Erdogan wäre wohl gern wie Putin - aber er ist nicht mal die Türkei

Die Türkei ist tief gespalten und die nächste Wahl steht an. Präsident Recep Tayyip Erdogan will die absolute Mehrheit unbedingt. Vermutlich bekommt er sie nicht, dann könnte er sein wahres und undemokratisches Gesicht zeigen.
Ein Kommentar von Raphael Geiger

Der Vergleich liegt in der Luft, man hört ihn in Europa genauso wie in der Türkei, und er ist genauso naheliegend wie falsch: vielleicht wäre Recep Tayyip Erdogan gern der türkische Putin, aber er ist es nicht. Er wird es niemals sein.
Für die Geschichte "Die Wut wächst" im aktuellen stern bin ich in den vergangenen Wochen durch die Türkei gereist. Ich war in Bodrum, der Küstenstadt an der Ägäis, Heimat der türkischen Nationalisten, jener Anhänger von Staatsgründer Atatürk, die Erdogan für einen gefährlichen Islamisten halten.

Wahlsiege mit nordkoreanischen Ergebnissen

Ich war auch in Sanliurfa nahe der syrischen Grenze, wo die Menschen mehr Arabisch als Türkisch sprechen und islamisch-konservativ wählen. Erdogans AKP gewinnt hier immer noch absolute Mehrheiten. Zwei Autostunden weiter liegt Diyarbakir, inoffizielle Hauptstadt der kurdischen Minderheit. Die AKP ist hier eine Splitterpartei, die neue pro-kurdische HDP feiert Wahlsiege mit nordkoreanischen Ergebnissen. Weiter nördlich, Richtung Schwarzmeerküste, trifft man wieder auf die Anhänger des Präsidenten. In Istanbul treffen sich alle: Liberale, Linke, Nationalisten, Islamisten. Türken, Kurden, Syrer.


Es ist ein heterogenes Land, selbst in seinen besten Zeiten konnte Erdogan die Opposition deshalb nie kleinkriegen. Es ist nicht nur sein Land, auch wenn er es gern so darstellt. Und wenn ihm das viele im Ausland abnehmen, so dass er nun in der Flüchtlingskrise als Garant für Stabilität gilt - er, der die Türkei dieses Jahr erst destabilisiert hat.
Vor allem seit den Gezi-Protesten wird die Opposition immer lauter; seit dem Einzug der HDP ins Parlament kann Erdogans AKP keine Regierung mehr bilden. Seit die Wirtschaft schwächelt, überdeckt auch sie nicht mehr die Konflikte, die es noch immer in der türkischen Gesellschaft gibt.

Scheitert die AKP wieder an der absoluten Mehrheit

Als die AKP noch die 50-Prozent-Grenze im Blick hatte, konnte Erdogan wie ein türkischer Putin regieren. Er hatte die Mehrheit und gab die Richtung vor. Seit die AKP zur 40-Prozent-Partei schrumpfte, geht das nicht mehr. Wer in einer halbwegs funktionierenden Demokratie 40 Prozent der Stimmen gewinnt, braucht einen Koalitionspartner. Das aber wollte Erdogan nie, weshalb die Türken am 1. November erneut wählen müssen.
Die Umfragen sind unzuverlässig, aber vermutlich wird die Wahl ähnlich ausgehen wie die letzte. Wahrscheinlich wird die AKP wieder an der absoluten Mehrheit scheitern. Was dann? Erdogan kann bisher den demokratischen Schein wahren, nach der kommenden Wahl muss er sein Gesicht zeigen. Geht er eine Koalition ein - oder verabschiedet er sich endgültig von demokratischen Mitteln, lässt er die Wahl fälschen, regiert er als Präsident an der Verfassung vorbei? Dann stürzt der von der EU umworbene Präsident das Land in einen Bürgerkrieg.

Die Wut wächst

Nach dem Anschlag von Ankara mit fast hundert Toten steht die Türkei am Scheideweg. Hat Präsident Erdogan die Eskalation der Gewalt in Kauf genommen, um die eigene Macht zu sichern? stern-Reporter Raphael Geiger war unterwegs im dem Land auf der Suche nach Antworten - jetzt im neuen stern

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