Kemal Kılıçdaroğlu "Wir werden ihn loswerden": Das ist der Mann, der Erdoğan herausfordert

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (Foto) will Recep Tayyip Erdoğan bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei schlagen
© OZAN KOSE / AFP
An diesem Sonntag wird in der Türkei gewählt. Kemal Kılıçdaroğlu könnte das Unvorstellbare gelingen: Den irgendwie ewig amtierenden Präsidenten vom Thron zu stoßen. Wer ist der Mann, der Erdoğan gefährlich wird?

Kemal Kılıçdaroğlu ist ein Mann der klaren Worte. Er spricht über die Schönheit seines Glaubens, trotz oder gerade weil viele darin seine größten Makel sehen, der Vorurteile wegen. Er spricht über den "Wahnsinn", der Einzug in die türkische Politik gehalten habe, und über den "Tyrann", der dafür verantwortlich sei. Nicht zuletzt spricht er unumwunden aus, was er vorhat: Er will diesen Tyrann vom Thron stoßen.

Allein: Kılıçdaroğlu, 74, spricht offensichtlich immer mehr Türkinnen und Türken aus dem Herzen. Wurde zunächst angezweifelt, ob er überhaupt der geeignete Kandidat sei – zu bescheiden im Auftritt, zu zurückhaltend im Angriff –, rechnen ihm Umfragen mittlerweile gute Chancen aus, dass ihm das Unvorstellbare gelingt: Recep Tayyip Erdoğan, 69, den irgendwie ewig amtierenden Präsidenten, bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai zu schlagen.

Wer ist der Mann, der Erdoğan gefährlich wird?

Zunächst einmal: ein Hoffnungsträger. Kılıçdaroğlu wurde, wenngleich nach einigem Gerangel, von einem Bündnis aus sechs Parteien zum gemeinsamen Kandidaten der Opposition gekürt – vereint in der Absicht, der Ära Erdoğan nach 20 Jahren ein Ende zu bereiten. "Wir werden ihn loswerden und auf demokratische Weise in den Ruhestand schicken", sagte Kılıçdaroğlu in einem Gespräch mit dem stern. "Erdoğan weiß das ganz genau."

Türkei-Wahl: der "Anti-Erdoğan" gegen den "Sultan"

Seit nunmehr 13 Jahren steht der studierte Ökonom der größten Oppositionspartei CHP vor, einst gegründet von Mustafa Kemal Atatürk, davor leitete er jahrelang die mächtige Sozialversicherung des Landes. Dennoch: Lange Zeit stand er im Ruf, zu sanft und zu farblos für die türkische Politik zu sein – unter seiner Führung konnte die CHP noch keine Wahl gegen Erdoğan gewinnen. Einerseits. Andererseits: In den repressiven Erdoğan-Jahren hat er die Opposition am Leben gehalten, die zersplitterten Parteien schließlich als Allianz gegen den Autokraten hinter sich versammelt. 

Dass Kılıçdaroğlu auch "Anti-Erdoğan" genannt wird, kommt nicht von ungefähr. Immer wieder hat er die Politik des "Sultan" – wie hingegen Erdogan wegen seines autoritären Machtgebarens genannt wird – kritisiert und sich durch Protestaktionen profiliert. Zum Beispiel im Jahr 2017, als er inmitten der Repressionen nach dem gescheiterten Putschversuch einen 420 Kilometer langen "Marsch für Gerechtigkeit" zurücklegte, auf dem ihm am Ende Zehntausende folgten.

Ich kämpfe für Demokratie, Menschenrechte, den Sozialstaat und die Unabhängigkeit der Justiz. In den internationalen Beziehungen glaube ich an Vereinbarungen und nicht an Aggressivität. Ich will einen transparenten Staat. Zwischen mir und Erdoğan gibt es genauso viele Unterschiede wie zwischen Schwarz und Weiß. Er steht für Schwarz, ich für Weiß.

Oder im vergangenen Winter, als er seine Stromrechnung nicht bezahlte – ebenfalls aus Protest, aber auch aus Solidarität. Hunderttausenden wurde der Strom abgestellt, weil sie sich die explodierenden Preise nicht mehr leisten konnten. Auch Kılıçdaroğlu saß schließlich im Dunkeln.

Mein Protest sollte diesen Menschen, die man in die Dunkelheit gestoßen hatte, eine Stimme geben. Unter unserer Regierung würde den Armen niemals der Strom, das Wasser oder das Gas abgestellt werden.

Zuletzt sorgte er mit einem Bekenntnis für Aufsehen, einem "Obama-Moment", der schon jetzt historisch genannt werden kann: Kılıçdaroğlu veröffentlichte via Twitter ein Video, in dem er sich zu seinem Glauben als Alevit bekennt – bis heute haben es mehr als 113 Millionen Menschen angesehen, so oft wie kein anderes Video auf Twitter. Und zwar weltweit.

Kemal Kılıçdaroğlu
Kemal Kılıçdaroğlu
© Foto: Twitter/Kemal Kılıçdaroğlu
"Manche sprechen von einem Obama-Moment": stern-Korrespondent ordnet virales Video von Erdogan-Gegner ein

Das "Outing" ist nicht trivial, es war mindestens ein Novum und mitunter ein Tabubruch. Der 74-Jährige stammt aus der ostanatolischen Provinz Tunceli (kurdisch: Dersim), gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an, die in der mehrheitlich sunnitischen Türkei bis heute Diskriminierung und Unterdrückung beklagen. Dieser Hintergrund wurde ihm noch vor Ankündigung seiner Kandidatur immer wieder als mögliche Schwäche ausgelegt. Kılıçdaroğlu stellte die vermeintliche Schwäche stolz aus – und erhielt dafür viel Zuspruch.

Ich bin ein Mensch aus dem Volk. Deshalb lebe ich auch so. Erdoğan hat die Leute vergessen, zu denen er einst gehörte. Er hat sich in einen Autokraten verwandelt und interessiert sich nicht mehr für die Probleme der Türken. Jemand, der mit einem Knüppel in der Hand regiert und die Leute einschüchtert, wird niemals etwas Gutes für die Gesellschaft leisten können. Man darf ein Land nicht mit Angst, Unterdrückung und Gewalt führen.

Kılıçdaroğlu polarisiert, begeistert, schürt Hoffnung – auch in der Bundesregierung. So hofft Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auf einen Sieg des Oppositionsführers, denn sein Sieg "würde den Weg für eine Rückkehr zur Demokratie ebnen". Der Ausgang sei "so offen wie nie" in Erdoğans rund 20-jähriger Amtszeit als Regierungs- und Staatschef.

Tatsächlich deuten Umfragen auf ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Das ist Kılıçdaroğlu bereits gelungen: Eine Niederlage von Erdoğan, das einst Unvorstellbare, ist nicht mehr ausgeschlossen.