Bei den Feiern in Moskau zum Sieg über Nazi-Deutschland vor 79 Jahren ging es nach Einschätzung des Sicherheitsexperten Christian Mölling nicht nur um Geschichte – sondern um knallharte Politik, die Wladimir Putin mit dem "besonderen Schuldverhältnis" Deutschlands zu Russland mache. "Russland nutzt diesen Schuldschein brachial“, sagte der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am Freitag im stern-Podcast "Die Lage – international“. Nach Möllings Einschätzung ist in Deutschland völlig in den Hintergrund getreten, dass neben Russland auch eine Vielzahl anderer Länder östlich der Oder von Hitlers Truppen überfallen worden seien und im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Aggression gelitten hätten. "Russland hilft das enorm“, sagte er mit Blick auf die seiner Ansicht nach selektiven Erinnerungen der Deutschen. Mölling machte deutlich, dass die historische Verantwortung Deutschlands sich eben nicht nur auf Russland beziehe, sondern auch auf Staaten wie Polen, Tschechien oder die Ukraine.
"Putin weiß, dass in Deutschland alle darauf anspringen"
Der Tag des Sieges am 9. Mai wertete er als Gelegenheit für Putin "in beide Richtungen zu kommunizieren; sowohl in die eigene Bevölkerung als auch nach außen – in unsere Richtung“. Gerade mit Blick auf die Deutschen habe Putin zum Beginn seiner neuen Amtszeit gezielt die Drohung mit Atomwaffen eingesetzt. "Er wollte alle wach machen, was ihm mit großer Sicherheit gelungen ist, weil er weiß, dass in Deutschland alle darauf anspringen“, sagte Mölling zu Putins Verweis auf die Einsatzbereitschaft des russischen Nukleararsenals.
Der Experte sah in Putins Aussagen zur Geschichte sowohl der Sowjetunion als auch des Zarenreichs vor allem ein Instrument der Propaganda – wobei der russische Präsident nicht fürchten müsse, dass ihm Historiker im eigenen Land auf fragwürdige Darstellungen hinweisen. Mölling erinnerte daran, dass schon bei Beginn der Großinvasion in die Ukraine auf Panzern Slogans wie "Wir fahren nach Berlin“ gestanden hätten. Das habe Assoziationen an das berühmten Bild vom Hissen der sowjetischen Fahne auf dem Reichstagsgebäude über den rauchenden Trümmern Berlins 1945 hervorgerufen. "Alle haben das Bild vor Augen“, sagte er. Diese Art der historischen Erinnerung sei "etwas, was man hoch und runter stellen kann als Rhetorik. Was aber extrem hilfreich ist, weil sich darauf alle verständigen können".