Der Sicherheitsexperte Christian Mölling erwartet, dass mehr körperlich und seelisch versehrte Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland kommen. Mölling sagte am Dienstag im stern-Podcast "Ukraine – die Lage", es sei offensichtlich, dass die Bewohner der von der Ukraine zurückeroberten und schwer zerstörten Region Cherson dort nicht über den Winter bleiben könnten. Russland versuche zudem, es der Ukraine "schwer zu machen, die Leute im Land zu halten". Dennoch erwarte er keine plötzliche Fluchtbewegung wie im Frühjahr Richtung Westen.
Viele Menschen würden versuchen, zunächst innerhalb der Ukraine Schutz zu finden. "Die Leute werden nicht in einer großen Welle kommen", sagte der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. "Aber es stellen sich neue Herausforderungen an die medizinische und wahrscheinlich auch psychologische Versorgung dieser Menschen." Anders als die im Frühjahr ausgereisten Ukrainer, hätten sie viele Monate Krieg und Zerstörung erlebt.
Ukrainische Luftabwehr gegen Angriffe stärken
Mölling forderte den Westen und insbesondere die Bundesregierung auf, mehr zu tun, um die an die Ukraine gelieferten Waffen etwa zur Luftverteidigung einsatzbereit zu halten.
"Die Herausforderung für die Instandsetzung wird immer größer werden", sagte er. Er bezweifelte, dass mittlerweile ausreichend Ersatzteile bestellt worden sind. "Man kann immer noch eine Sache machen, in der die Bundeswehr Meister ist, nämlich das Kannibalisieren alter Systeme – das führt aber dazu, dass immer weniger Systeme vorhanden sind." Bei den von Deutschland gelieferten Haubitzen könne man sehen, wie schnell die Systeme ausfallen, wenn die Instandsetzung nicht funktioniere.
"Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit", sagte er mit Blick auf die russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur. "Die Frage ist, können die Russen mehr Flugkörper anschaffen, was sie jetzt ja offensichtlich über den Iran versuchen. Und was können wir, der Westen, an Abwehrmöglichkeiten noch bereitstellen." Mölling räumte ein, dass das Thema Ersatzteilversorgung wenig spektakulär sei. "Es klingt total kleinteilig und technisch, aber es ist ein Ausdruck von Professionalität einer Regierung, dass sie es trotzdem macht, auch wenn es keine tollen Schlagzeilen gibt", sagte er.
Russen instrumentalisieren Angst vor Nuklearkatastrophe
Der Politologe ging davon aus, dass Russland eine Katastrophe im Atomkraftwerk Saporischschja nicht bewusst herbeiführen wird. "Russland nimmt aber mindestens das Risiko in Kauf", erläuterte er. Nach seiner Einschätzung gehört dieses Risiko "zur gesamten mentalen Bedrohungslage", die bewusst aufrechterhalten werde. Damit solle im Westen die Haltung gestärkt werden, dass man sich mit Russland irgendwie verständigen müsse.